Schmidts Bewährung
Bühnenbildnerin in Sommer- und kleinen Repertoiretheatern gearbeitet, bis sie über dreißig war, und sich dann entschlossen, Jura zu studieren. Alles Weitere war wie zu erwarten. Hervorragende Ergebnisse in vagen Schwafelkursen windiger Dozenten über Menschenrechte, internationale Rechtsordnung, Frauenrecht und ein Seminar über die Zustände in Haftanstalten; ausreichende Noten in den Pflichtübungen zu den nüchternen, trockenen Themen, die für Schmidt und W&K zählten: Verträge, Steuern, Zivilprozeßrecht, Handelsgesellschaften, Wertpapiergesetze. Andererseits sprach zu ihren Gunsten, daß sie in Berkeley ein Examen über Renaissance-Studien mit Auszeichnung bestanden, ein Jahr an der Universität Grenoble studiert hatte und angeblich fließend Französisch und Italienisch sprach. Dies war sein letztes halbstündiges Interview nach einem Zweitagesprogramm von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends ohne Mittagspause. In einer fensterlosen Kabine im Verwaltungsgebäude. Das Interesse an einem Vorauswahlgespräch mit dem Nachwuchsanwerber von W&K war so groß gewesen, daß er sichbereit erklärt hatte, zusätzliche Interviews beim Frühstück und Lunch in der Cafeteria der Law School durchzuführen.
Die Bewerbungsmappe Daly und auch die anderen hatte er in der Nacht zuvor gelesen. Sie hatte keine Chance: Die Noten waren ungünstig; bei W&K galt als Grundregel, daß Studenten, die ihr Jurastudium nach dem Abbruch einer anderen wirrköpfigen Karriere beginnen, als Rechtsanwälte ungeeignet sind; die »persönlichen Interessen«, die sie unten auf der zweiten Seite in Kursivdruck aufgelistet hatte: Kochen, moderner Tanz und Poetik, schreckten ihn ab. Das Ganze war Zeitvergeudung, Schuld daran trug das Losverfahren, das die Universität zum Einsatz brachte, wenn sich zu viele Studenten für ein Vorstellungsgespräch meldeten. Dieses Mädchen hätte sich geradesogut um eine Stelle beim Raumfahrtprogramm bewerben können. Und dann überraschte sie ihn, und darauf war er nicht vorbereitet. Während des letzten und des vorletzten Interviews hatte er die Augen kaum noch offenhalten können. Aber sobald sie anfing zu sprechen – sie schilderte auf seine Bitte die Fakten und die Entscheidung des interessantesten Falles, den sie in letzter Zeit studiert hatte –, wachte er auf, weil ihm deutlich wurde, daß sie ein bemerkenswertes Verständnis für die Struktur juristischer Argumentation und zugleich eine unaggressive Selbstsicherheit besaß. Im Verlauf des Gesprächs hielt sie sich so gut, daß er sie am Ende der zugeteilten Zeit nicht unterbrach, sondern darüber nachdachte, ob ihr besser damit gedient wäre, wenn er sie sofort auf eigene Verantwortung zum vollen Auswahlprogramm nach New York in die Kanzlei einlüde oder wenn er das Einstellungskomitee dazu bewegte, die Einladung auszusprechen. Theoretisch sollten nur die stärksten Kandidaten gleich vom Talentsucher eingeladen werden. Mit ihren schriftlichen Unterlagen qualifizierte Laverna Daly sich ganz sicher nicht, und womöglich würde es ihm nicht gelingen, das Komitee zu überzeugen, dessen Mitglieder ihre Zeugnisse mit denselben Vorurteilen lesen würden wie er; wenn er sie aber ins Haus brächte, machte sie ihre Sache möglicherweise hervorragend.
Hören Sie, sagte er, ich werde ein kalkuliertes Risiko eingehen. Aufgrund Ihrer Noten und Unterlagen sollte ich Ihnen erklären, daß dies ein sehr gutes Gespräch war, daß ich meinen Partnern einen günstigen Bericht darüber geben werde und daß ich hoffe, wir können Sie zu einem Besuch einladen, obwohl die Konkurrenz an Ihrer Universität groß ist, und so weiter. Statt dessen riskiere ich etwas und lade Sie jetzt sofort nach New York ein, weil ich Ihnen die Chance geben möchte, besser zu sein als Ihre Zeugnisse, indem Sie mit den anderen Sozii so reden, wie Sie es mit mir getan haben. Machen Sie sich nicht zu viel Hoffnung, und enttäuschen Sie mich nicht.
Es war kein flüchtiges Erröten. Sie wurde feuerrot und fing an zu beteuern, dies sei die Erfüllung ihrer kühnsten Träume und die erste Einladung von einer echten Spitzenfirma – bis er sie unterbrach.
Rufen Sie einfach diese Dame an. Hier. Er schrieb Namen und Telefonnummer auf und gab ihr den Zettel – je eher, desto besser. Sie macht den Zeitplan für die Interviews. Es ist ein Vorteil, gleich in der ersten Gruppe der Kandidaten zu sein.
Sie stand auf, gab ihm die Hand und fragte dann: Kennen Sie die Stadt? Sind Sie schon einmal hier
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