Schmidts Einsicht
nichts geändert. Ich hoffe, er hat das nicht gedacht. Das wäre ein zusätzlicher Kummer.
Plötzlich, ohne Vorwarnung, fing sie an zu weinen, die Tränen liefen ihr über die Wangen, aber sie sagte kein Wort.
Ungeschickt wegen seines Humpelns bewegte er sich zu ihr, setzte sich neben sie auf das Sofa und legte ihr ganz spontan den Arm um die Schultern. Alice, sagte er, es tut mir so schrecklich leid, bitte hör auf, es tut mir leid, daß ich dich mit diesen Fragen bedrängt habe. Wenn du willst, gehe ich jetzt sofort, wenn du dich dann leichter wieder beruhigen kannst.
Schluchzend schüttelte sie den Kopf und stürzte aus dem Zimmer. Schmidt ging zu seinem Sessel zurück und wartete beunruhigt.
Als sie wiederkam, klang ihre Stimme zittrig, aber sie weinte nicht mehr. Das ist eine lange, traurige Geschichte, sagte sie. Willst du sie wirklich hören?
Er nickte.
Sie sah auf die Uhr und sagte: Wenn das so ist, mußt du zum Essen bleiben. Bitte entschuldige mich noch einmal, ich muß Madame Laure Bescheid geben.
Sie kam wieder, bot ihm noch einen Whiskey an, zögerte einen Moment und goß sich dann auch einen, viel kleineren, ein. Das Essen wird in einer Viertelstunde fertig sein: etwas ganz Einfaches, kaltes Huhn und Salat. Ich hoffe, das ist dir recht. Dann fügte sie hinzu: Kann das, was ich dir erzähle, entre nous bleiben? Wirst du nicht das Gefühl haben, du müßtest es in der Firma besprechen?
Er versicherte ihr, daß er als trauernder Freund gefragt habe. Es werde ihm nicht einfallen, in der Firma über ihre Unterhaltung zu reden – er sei ohnehin im Ruhestand –, es sei denn, sie erlaube es ihm ausdrücklich, worauf sie sich mit den Worten entschuldigte, sie könne ihre Bitte selbst nicht verstehen, vielleicht liege es daran, daß sie zum erstenmal mit jemandem, der nicht ohnehin Bescheid wisse, über gewisse Dinge rede. Er könne sich nicht vorstellen, wie sehr sie sich über seinen Besuch freue. Ihr sei klargeworden, wie dringend nötig es für sie sei, die Geschichte von Anfang bis Ende zu erzählen, und sie habe wirklich niemanden gefunden, der Tim vor Paris gut gekannt habe und an den sie sich habe wenden können. Und so redete sie ununterbrochen, beim Whiskey und dann beim Essen und danach, als sie in der Bibliothek Kaffee tranken. Zuerst dachte er, daß er von einem zählebigen Ehestreit hören werde, Klagen über Tims selbstsüchtiges und herablassendes Benehmen, die sie dringend loswerden mußte. Aber als er mehr erfuhr, sank ihm das Herz. Die Geschichte von Tims Verfall war entsetzlich – unvorstellbar.
Sie habe sich gewundert, sagte sie, als Tim 1981 beschloß, zu Dexter Wood zu gehen und sich als Nachfolger von Billy Higgs anzubieten, der damals Leiter des Pariser Büros war und dem Plan nach erst zwölf Monate später nach New York zurückkehren sollte. Sich so vorzudrängen, sei nicht Tims Stil gewesen. Und was die Sache noch befremdlicher machte: Ein paar Jahre vorher hatte er Dexter kalt abblitzen lassen, als der ihn fragte, ob er Higgs’ Vorgänger Sam Warren in Paris ablösen wolle. Er lehnte gegen ihren Wunsch ab. Sie wäre damals aus vielen Gründen wirklich gern nach Paris gezogen, und er habe ganz genau gewußt, warum: Wenn das französische Erbe für die Kinder Bedeutung haben sollte, dann mußten sie irgendwann einige Jahre in Frankreich verbringen, und damals war der Zeitpunkt für die beiden perfekt. Sophie war fünf und Tommy drei; sie waren noch in der Vorschule und konnten sich in Paris bruchlos auf das französische Schulsystem umstellen. Die Sprache war kein Problem, sie sprach immer Französisch mit ihnen. Die Kinder verstanden alles und waren kurz davor, die Sprache wirklich gut zu beherrschen. Sie hatte Tim gesagt, wenn er sich Sorgen mache, ob sie auch lernen würden, Englisch zu lesen und zu schreiben, so könne man immer dafür sorgen, daß sie diese Fähigkeiten übten: mit Tutoren vielleicht, oder sie könnten in eine zweisprachige Privatschule gehen mit Unterricht in beiden Sprachen. Sie hatte noch einen anderen persönlichen und schwerwiegenden Grund gehabt, nach Frankreich zu gehen, den Tim ebenfalls genau kannte. Bei ihrer Mutter war kurz zuvor eine amyotrophe Lateralsklerose diagnostiziert worden, eine unheilbare Krankheit. Die Ärzte meinten, ihre Mutter leide an einer aggressiven Form. Ein paar Monate zuvor hatte sich ihr Vater endlich aus dem diplomatischen Dienst zurückgezogen, und sie hatten beschlossen, das Appartement in der Rue duBac zu verkaufen
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