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Schmidts Einsicht

Schmidts Einsicht

Titel: Schmidts Einsicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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und in das Haus in Antibes zu ziehen, das die Mutter geerbt hatte und das sie liebte, da sie bis zum Krieg jeden Sommer in den Ferien dort gewesen war. Beide Eltern waren überzeugt, daß das Klima in Antibes ihr guttun würde. Alice hatte sogar daran gedacht, daß sie und Tim das Appartement in der Rue du Bac kaufen könnten. Es bot reichlich Platz für die Kinder und eignete sich hervorragend für größere Empfänge. Auch die Lage war wunderbar, die Eltern wollten nur verkaufen, weil die Wohnung viel zu groß für sie war, seit sie keine großen Empfänge mehr gaben.
    Weißt du überhaupt etwas von meiner Familiengeschichte? fragte sie abrupt.
    Schmidt erwiderte, natürlich wisse er, daß ihr Vater französischer Botschafter in Washington gewesen sei. Er sei ihm und Alices Mutter auf dem Empfang anläßlich ihrer Hochzeit vorgestellt worden. Aber das sei auch alles.
    Ich bin ein Kind des Sieges in Europa, sagte sie. Mein Vater war während des gesamten Krieges bei den Freien Franzosen. Er konnte sich, als Pétain kapitulierte, gerade noch von Bordeaux nach London durchschlagen und gehörte danach zu den Leuten, die mit Fallschirmen über Frankreich absprangen, um besondere Aufträge zu erfüllen, und anschließend wieder nach London gebracht wurden. Während einer dieser Missionen lernten meine Mutter und er sich in der Normandie kennen. Sie war in der gaullistischen Résistance. Seltsam: So überlebte sie. Sie trug den gelben Stern nicht mehr und ging in den Untergrund. Als mein Vater im August 1944 mit der Division Leclerc nach Paris kam, war sie schon dort, und ich wurde zwölf Monate später geboren, drei Monate nachdem sie geheiratet hatten. Es hätte eine Mußehe sein können, aber von der Verwandtschaft meiner Mutter war niemand mehr da, der meinen Vater unter moralischen Druck hättesetzen können. Ihre gesamte Familie endete in Auschwitz und Bergen-Belsen, und keiner überlebte. Sie gehörten zu den Juden, die glaubten, ihnen würden die Deutschen nie antun, was sie anderen antaten.
    Sie sah die Ratlosigkeit in Schmidts Gesicht und fügte hinzu: Ja, meine Mutter war Jüdin. Aber das hat meinen zu hundert Prozent arischen Vater nicht gestört; er war einer dieser brillanten französischen Protestanten, die in allen concours den ersten Platz belegen – in diesen Wettbewerben um die besten Examensergebnisse, an denen man teilnehmen mußte, um zu den besten Hochschulen zugelassen zu werden und in eine Spitzenposition am Quai d’Orsay aufzusteigen, was ihm gelang. Wie auch immer, bei meiner Geburt waren sie älter als die meisten Eltern, und sie versuchten nicht, noch mehr Kinder zu bekommen. Meine Mutter starb 1986, kurz vor ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag.
    Und dein Vater?
    Zum ersten Mal an diesem Morgen lachte sie, ein Lachen, dessen Klang Schmidt zu lieben beschloß. Mein Vater ist sehr lebendig, mit neunzig noch bei bester Gesundheit, vollkommen klar im Kopf, und lebt in Antibes zusammen mit der besten Freundin meiner Mutter. Unverheiratet natürlich, sie sind ganz modern.
    Schmidt verwünschte sich, weil er sie hatte merken lassen, wie bestürzt er war, daß sie eine jüdische Mutter hatte. Das war ein Tick; er hatte reagiert wie ein blödes Aufziehspielzeug, das einfach losschnurrt, in Gang gesetzt durch eine Einstellung aus einer Zeit, als solche Dinge für viele Leute, auch ihn, eine Rolle spielten. Für Menschen, die es jetzt besser wußten, die keine Witze mehr über Juden, Schwarze oder Tunten machten. Daß es ihn heute noch irritierte, glaubte sie bestimmt nicht. Andererseits war es unfair, das, was vor dreißig Jahren üblich war, an denSensibilitäten und Regeln von heute zu messen. Ein politischer Anachronismus! Und so unterbrach er sie – wenig überzeugend: Du weißt doch, Alice, daß deine – sehr vornehme – Herkunft weder mir zu schaffen machte, noch für die Firma ins Gewicht fiel. Ich glaube nicht, daß irgend jemand davon wußte oder danach fragte! Sieh dir doch Lew Brenner an, fügte er hinzu. Sozius wurde er in dem Jahr, als ihr geheiratet habt, oder vielleicht im Jahr davor.
    Alice zog die Brauen hoch und seufzte. Ach, das wunderbare, unveränderliche antisemitische Amerika, sagte sie leise. Ich erinnere mich genau. Aber laß nur. Um auf Tim zurückzukommen: Als er damals Dexters Angebot ablehnte, wußte er, wie mir zumute war, er wußte, wie es um meine Eltern stand. Er erklärte mir einfach: Du kannst jederzeit nach Frankreich fahren, wann du willst und sooft du willst

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