Schmidts Einsicht
Regenmantel und einen Schirm und hastete aus der Wohnung.
Gegen seine Gewohnheit – wenn die Entfernung nicht zu groß und der Regen nicht zu heftig war, ging er in der Stadt gern zu Fuß, und die fünfunddreißig Häuserblocks bis zu seinem Club waren ihm gerade recht – nahm Schmidt ein Taxi. Er hätte sich allerdings gar nicht beeilen müssen. Sein Freund, der Portier in der Eingangshalle, versicherte ihm, es sei ein Abend mit vielen Gästen, deshalb werde die Küche noch nicht gleich schließen; die Zeit reiche sogar für einen Drink an der Bar. Aber Schmidt spürte, daß er matt wurde. Den Jetlag, den er als Entschuldigung vorgeschoben hatte, ohne daran zu glauben, spürte er jetzt wirklich. Er beschloß, auf den Gin-Martini vor dem Dinner zu verzichten, und stieg die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf. Auch der Maître d’hôtel war sein Freund und begrüßte ihn wie den heimgekehrten verlorenen Sohn. Ja, sie hätten viel Publikum, so viel, daß sie einige Mitglieder und deren Gäste in den nur für Mitglieder vorgesehenen Speisesaal hatten setzen müssen, aber an dem langen, für Mitglieder reservierten Tisch sitze niemand. Er schlug vor, daß Mr. Schmidt zum Essen an einem Tisch für zwei Personen im Hauptspeisesaal Platz nehme. Da gehe es lebhafter zu. Obwohl Mitglieder, die allein zum Abendessen kamen, gehalten waren, sich an den langen Tisch zu setzen, da jederzeit ein anderes einzelnes Mitglied auftauchen konnte, auch wenn im Moment niemand dort saß, und obwohl Schmidt sich gern an diese Clubsitte hielt, ließ er sich doch auf den Vorschlag ein. Raffael war ein guter Mann, der versuchte, nett zu sein. Warum sollte man ihn kränken? Außerdem hatte er sich überlegt, daß es interessant wäre, zu beobachten, wer – von den Mitgliedern und Gästen – sich im Hauptsaal einfand, den er kaum je betrat. Genaugenommen hatte er seit einem katastrophalen Mittagessen − vor zwei oder drei Jahren? – mit Charlottes Schwiegermutter, der bedrohlichen Therapeutin Dr. Renata Riker, nie mehr dort gesessen. Die Erinnerung an die Doppelzüngigkeit und Unverfrorenheit dieser Frau lenkte ihn für einen Augenblick von seinen Sorgen um Alice ab. Unglaublich, wie sie sich selbst zum Lunch mit ihm eingeladen hatte und ihm beim Essen die Kopie einer Bandaufnahme präsentierte, die ihr heimtückischer Sohn gemacht hatte, um ein Telefongespräch zwischen ihm, Schmidt, und seiner eigenen Tochter zu dokumentieren! Der Tochter, die damals die Geliebte, aber noch nicht die Ehefrau dieses Menschen war. Er hatte die Kassette mit Entrüstung und gerechtem Zorn zurückgewiesen, so wie sie es verdiente, und den beiden Rikers diese Schandtat nie vergessen und nie verziehen. Myron Riker dagegen, Seelenklempner, Renatas Ehemann und Jons Vater, war das einzige Mitglied dieser schrecklichen Familie mit gewissen Verdiensten: Er mischte erstklassige Gin-Martinis und hielt meist den Mund. Nein, den Waffenstillstand, den er mit Charlotte geschlossen hatte, wollte er nicht brechen, aber die Vergangenheit konnte man nicht auslöschen, und ganz gewiß nicht die Anschuldigung, die Charlotte ihm während des aufgezeichneten Telefongesprächs an den Kopf geworfen hatte, diese gemeine Lüge, mit der sie ihn verletzen wollte. Wie hatte sie sich so etwas ausdenken können? »Aggressiv ist, wer sich schuldig fühlt« war die platte Rationalisierung gewesen, die Seelenklempnerin Renata anzubieten hatte. Aber selbst wenn damit der Mechanismus von Charlottes Verhalten zutreffend beschrieben war, blieb doch die Lüge selbst unerklärt und unverständlich, die Lüge, mit der sie behauptete, daß jeder in seiner Kanzlei ihn als einen Judenhetzer und Antisemiten gekannt habe. Welchen Abgrund der Schändlichkeit hatte sie gegraben, um das auszuhecken?
An seinem rechten Ellbogen stand ein Kellner und holte ihn in die Gegenwart zurück. Er überflog die Speisekarteund schrieb seine Bestellung auf den Belegzettel. Ein Blick auf die Weinkarte zeigte ihm, daß keine der halben Flaschen Rotwein nach seinem Geschmack war; er zuckte die Achseln und trug die Ziffer für eine ganz Flasche ein. Vielleicht würde sie ihm den ungestörten Nachtschlaf bescheren, den er brauchte. Was übrigblieb, konnte in einer Sauce verarbeitet oder vom Küchenpersonal genossen werden. Nachdem dies erledigt war, sah er sich im Raum um und winkte den Clubmitgliedern zu, die er kannte und deren Blick er auffangen konnte. Dazu gehörte Lew Brenner, der zwei Tische weiter mit seiner Frau
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