Schmierfinken - Politiker ueber Journalisten
Erziehung sind.
Nach einem Jahr in Fulda zieht die Familie Jörges nach Frankfurt. Dort kommt ein Student als Aushilfslehrer ans Gymnasium. Er treibt die Schüler an, etwas gegen die angebliche Bildungsnot zu tun. Es werden Vollversammlungen einberufen. Jörges hält die erste Rede seines Lebens; er spricht vor seinen Mitschülern und wird in den Streikrat gewählt. Alles geschieht ganz schnell in dieser Zeit. Die Schule wird bestreikt, es geht gegen den damaligen hessischen SPD-Kultusminister Ludwig von Friedeburg - eigentlich grotesk, wo doch Friedeburg selbst ein leidenschaftlicher Veränderer sein wollte.
Jörges beteiligte sich an einem Sternmarsch nach Wiesbaden, bei dem unter anderem skandiert wurde: »Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!« In dieser wilden Zeit in der Oberstufe wohnt Jörges nicht mehr zu Hause, sondern findet außerhalb von Frankfurt am Stadtrand eine Bleibe. Er muss endlos mit der Straßenbahn fahren, übernachtet in unterschiedlichsten Wohngemeinschaften und fängt an, »richtig« Musik zu hören, wie er selbst sagt - eine unglaubliche Befreiung. Direkt nach dem Abitur gründet er mit zwei Schulfreunden eine Wohngemeinschaft. Sie gehen regelmäßig zu Demonstrationen, sind bei Hausbesetzungen dabei, reißen Pflastersteine aus Gehwegen, Scheiben klirren. Sie beschädigen das amerikanische Generalkonsulat. Gute Voraussetzungen für große Karrieren, wie wir heute wissen.
Doch der junge Revoluzzer ist nur das eine Gesicht des Hans-Ulrich Jörges. Er ist im völligen Einverständnis mit seinen Eltern von zu Hause ausgezogen. Obwohl sein Vater
ihm das Studium finanzieren will, bewirbt er sich als Chef vom Dienst bei den Vereinigten Wirtschaftsdiensten, um selbst Geld zu verdienen.
»Du kannst überall studieren, du sollst es besser haben als ich«, sagt der Vater zu Hans-Ulrich Jörges. Doch der Sohn lehnt ab. Er will zuerst einen Beruf lernen. So entscheidet er sich für ein Volontariat bei der Wirtschaftsnachrichtenagentur. Jörges zieht den Journalistenberuf einer Lehre als Schriftsetzer in einer großen gewerkschaftseigenen Druckerei vor. Diese hätte mehr als drei Jahre gedauert, das Volontariat dauert nur zweieinhalb.
Es ist ein CDU-Mann, der dem langhaarigen Revoluzzer eine Chance gibt. Der ältere Herr wird nicht enttäuscht. Jörges arbeitet hervorragend, die Ausbildung wird verkürzt und er kann dort auch während des Studiums der Gesellschaftswissenschaften arbeiten. Tagsüber randaliert Jörges gegen den bösen Kapitalismus und die Amerikaner, abends verfasst er den Börsenbericht.
Diesen Spagat schafft Jörges, auch weil er immer unabhängig bleibt. Viele andere leben nur in ihrer Kommunen-Welt, er pflegt auch in diesen Zeiten engen Kontakt zu seinen Eltern, mit denen er ein völlig entspanntes Verhältnis hat. Für den Wirtschaftsverlag nimmt er an Pressekonferenzen teil, unternimmt Pressefahrten mit Unternehmen und macht dabei die Erfahrung: »Das sind keine Schweine, keine Teufel, sie sind so gut und so böse wie alle anderen auch.«
Diese Erfahrung hat ihn womöglich vor einer radikalen Entwicklung bewahrt. Denn viele seiner Bekannten gleiten ins radikale Milieu ab. Jörges kennt sie alle: Johannes Weinrich, den späteren Adjutanten des Auftragsterroristen Carlos, Wilfried Böse, der eine Air-Force-Maschine
nach Entebbe entführt und dort ausschließlich jüdische Passagiere als Geiseln auswählt, Hans-Joachim Klein, der beim Überfall auf die OPEC in Wien mitmacht. Sie alle werden Terroristen. Hans-Ulrich Jörges überschreitet diese Trennlinie nicht und stellt heute unbestechlich und sehr ernst fest, dass diese 68er, die wie er aus der Frankfurter Szene kamen, »in die verbrecherische Tradition der Nazi-Generation rutschten, die wir einst bekämpfen wollten«.
Jörges lässt sich nicht als Terrorist rekrutieren. Er riecht die Gewalt und ist konsequent dagegen. »Erstens war ich Kriegsdienstverweigerer, zweitens habe ich die andere Seite gekannt durch meinen Beruf«, antwortet Jörges auf die Frage, was wohl die Gründe für seine Distanzierung von der Szene waren, die sich zur RAF entwickelte. Jörges wird bei den Vereinigten Wirtschaftsdiensten (VWD) zum Betriebsrat gewählt, geht später zu Reuters, gibt sein Studium auf und wird, was er gelernt hat: Journalist.
Die Berliner Zeit als Büroleiter der Nachrichtenagentur Reuters sind die Jahre, in denen die SPD-Herrschaft in Berlin zu Ende geht, in denen teilweise gewalttätige Demonstrationen
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