Schmierfinken - Politiker ueber Journalisten
stattfinden. Aus Ostberlin dringen die Berichte über den Hausarrest für Jürgen Habermann und die Auseinandersetzungen mit Stefan Heym. Über die Nachrüstung gibt es heftige Auseinandersetzungen, aber die Agentur Reuters erzieht den jungen Journalisten zur Unabhängigkeit und zum vorsichtigen Umgang mit Quellen. Es ist strikt untersagt, anonyme Quellen zu zitieren. Seit dieser Zeit lautet das Credo im journalistischen Leben von Hans-Ulrich Jörges: »Unabhängigkeit, immer Unabhängigkeit.« Er lehnt es ab, sich einer Bewegung, einer Welle anzuschließen. Das ist vielleicht auch der Grund, warum Jörges manchmal bewusst provokativ, bisweilen sogar provozierend
gegen den Strom schwimmt, den Stachel wider den Stachel löckt. Jörges verabscheut die Wellenreiter. Deshalb macht er nicht mit, wenn alle Welt schreit: »Hau den Beck!« oder: »Hau den Huber!«
Für Jörges nimmt ein, dass er nicht nur kritisch auf andere blickt, sondern auch zur Selbstkritik fähig ist. Seine These ist, dass man sich für die politischen Auswirkungen der 68er schämen muss, wenn man dabei war. »Das ist nichts, worauf man stolz sein kann«, sagt er ganz nüchtern. »Im politischen Bereich waren die 68er eine höchst totalitäre Bewegung, die nicht mal in den eigenen Reihen demokratisch Konflikte austrug, geschweige denn gegenüber Leuten, die eine andere Meinung hatten.«
Seit 2002 ist Hans-Ulrich Jörges stellvertretender Chefredakteur des Stern und Leiter dessen Hauptstadtbüros. Auch in dieser sehr profilierten Position eines Meinungsmachers lässt er sich nicht verbiegen. Als er nach dem Fernsehduell Merkel-Schröder im Vorfeld der Bundestagswahl 2005, entgegen aller Umfragen, Angela Merkel als Siegerin sieht, hagelt es Proteste gegen ihn. Es gibt, wie Jörges nachweisen kann, Anschreiben aus der Berliner SPD-Zentrale, die dazu aufrufen, Stern -Abos zu kündigen und entsprechende Briefe an den Verlag nach Hamburg zu schicken. Einige Hundert Abos werden gekündigt, es geht eine Flut von E-Mails ein, Hunderte von Protestbriefen. Doch die innere Pressefreiheit siegt: Jörges bleibt und er soll Recht behalten. Immer wieder sind seine Kolumnen die Vorwegnahme späterer Entwicklungen.
Das größte Problem unserer Zeit sieht Jörges in der Vorbild- und Führungslosigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen. Hier kommt er wieder zum Vorschein, sein alter
Deutschlehrer. Es gebe zu wenige, die zu Überzeugungen stehen, die sie auch dann noch äußern, wenn sie auf Widerstände treffen. Für eine Sache stehen, wohl mit einem klaren Ziel, aber ohne taktische Absichten und ohne billige Machtambitionen, das vermisst Jörges. Er trauert ihnen nach, den großen alten Leuten, die im Krieg oder der Nachkriegszeit wirklich existenzielle Krisen durchmachten und durch sie geprägt wurden.
Abschließende Bewertungen über aktuell handelnde Politiker zu bekommen, gelingt bei Jörges nicht wirklich. Angela Merkel, die Bundeskanzlerin, die nach der friedlichen Revolution 1989 wie viele andere auf die politische Bühne kam, verfolgt er mit großem Interesse: ihren politischen Mut, die Vorsicht, mit der sie Größe gewann, die neue Offenheit, das Anpassen an mediale Bedürfnisse. Entspannter, sympathischer, größer sei sie geworden, so urteilt er heute und lässt die Zukunft offen: »Kein Mensch ist fertig, alle Menschen entwickeln sich, sie hat sich auch schon stark entwickelt.«
Grundsätzlich vermisst Jörges Leidenschaft in der Politik. Auch hier beklagt er, dass Vorbilder fehlen. Es reicht ihm nicht, nur professionell seinen Job zu machen. Die Bürgerinnen und Bürger wollen sich engagieren, sie suchen im öffentlichen Raum Möglichkeiten, gemeinsam mit anderen etwas zu tun. Aber Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften und Medien schaffen keine ausreichenden Angebote dafür. Eine zentrale Herausforderung sieht Jörges deshalb darin, den »unglaublichen Frust der Menschen an der Politik oder überhaupt an gesellschaftlichen Verhältnissen aufzubrechen«. Dazu bedarf es seiner Meinung nach Vorbildern und Menschen, die überzeugend vorangehen. In der Vielfalt und Unübersichtlichkeit der Gegenwart
und bei der Orientierungslosigkeit mit Blick auf die Entwicklung der Globalisierung braucht es Fundamente zum Feststehen und Leuchttürme zur Orientierung - Vorbilder also.
Jörges hofft auf Konfrontation im Wahljahr, nicht in erster Linie, weil er Journalist ist und über Konflikte spannender schreiben kann. Sondern auch, weil er darin einen Weg
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