Schmuddelkinder - Lenz sechster Fall
am Kinn. Eine Folge der unterlassenen morgendlichen Rasur.
»Weiß einer von den
beiden, dass Sie hier sind und mit uns über Herrn Schlieper sprechen?«
»Jens weiß es. Er wollte
eigentlich selbst kommen, hat sich dann aber doch nicht getraut.«
»Umso
schöner, dass Sie sich getraut haben, Frau Seute.«
Die junge Frau wurde ein
klein wenig rot. »Danke.«
Hain zog seinen
Notizblock aus der Tasche. »Wo können wir denn Herrn Schlieper senior
erreichen?«
Sie nannte ihm die
Adresse einer Ausbildungsstätte der Bundeswehr in Kassel. »Aber bitte sagen Sie
ihm nicht, dass ich bei Ihnen war.«
Sie warf einen
erschrockenen Blick auf ihre Armbanduhr. »Wow, jetzt muss ich aber los. In
einer Stunde muss ich an der Arbeit sein.«
»Wohnen Sie noch in
Fritzlar?«
»Nein, schon länger nicht
mehr. Ich wohne in Hann. Münden und arbeite in Göttingen.«
»Darf ich fragen, was Sie
machen?«
Sie stand auf. »Ich bin
Konditorin.«
»Dann machen Sie Torten
und solche Sachen?«, begeisterte sich Hain.
»Auch. Aber ich muss mich
jetzt wirklich losmachen, sonst komme ich zu spät.«
Lenz stand auf und
reichte ihr die Hand. »Danke, dass Sie zu uns gekommen sind, Frau Seute. Und
Sie können sich darauf verlassen, dass wir Sie gegenüber Herrn Schlieper nicht
erwähnen werden. Versprochen.«
»Vielen Dank, und auf
Wiedersehen«, erwiderte sie erleichtert und war auch schon durch die Tür.
»Komische
Sache«, fasste Hain das Gespräch mit Annalena Seute zusammen. »Glaubst du, so
einer wie dieser Schlieper kriegt nach so langer Zeit noch Ärger, wenn sich
herausstellt, dass er bei der Einstellung gelogen hat?«
»Was weiß ich? Wir kennen
uns mit den Gepflogenheiten bei der Bundeswehr nicht aus, weil wir halt nie
gedient haben.«
»Gott sei Dank«, winkte
Hain ab. »Aber jetzt müssen wir noch kurz Rüdiger damit beauftragen, irgendwie
an die Fingerabdrücke von dem Fuchs zu kommen, der den Treppenstunt aufgeführt
hat, damit wir weiter nach dem anderen fahnden können.«
Lenz fasste sich an den
Kopf. »Du spinnst wohl? Wir lassen die beiden zur Fahndung ausgeschrieben.
Stell dir vor, der noch auf freiem Fuß Befindliche hat die Ausweise von beiden.
Das sind Zwillinge, die kann man nicht einfach so auseinanderhalten. Also weist
er sich mit dem Dokument aus, das seinem Bruder gehört, weil der ja eh schon
bei uns ist und die Fahndung ergo eingestellt wurde. Dann wären wir ganz schön
angeschissen, was meinst du?«
Hain deutete eine
Verbeugung an und das Ziehen eines imaginären Hutes. »Mein lieber Mann.
Manchmal bin ich wirklich überrascht, was du so alles auf der Pfanne hast.«
Der
kurze Besuch bei Leonhard Witsch, dem alkoholkranken Mitarbeiter des
Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, war wesentlich weniger spektakulär, als die
beiden Kripobeamten es sich ausgemalt hatten. Witsch hatte sie in aufgeräumter
Stimmung und mit einem frischen Hemd bekleidet empfangen, sich ausdrücklich
dafür bedankt, dass sie ihn nicht bei seinem Arbeitgeber verpetzt hatten, und
ihnen die gewünschte Liste in die Hand gedrückt.
›Und seien Sie sicher,
dass mir die Ereignisse von gestern Abend und der vergangenen Nacht eine Lehre
sein werden‹, hatte er den Polizisten als Versprechen mit auf den Weg gegeben.
Na ja, hatte Lenz
gedacht.
Die
Aufstellung, die Witsch ausgedruckt hatte, bestand aus 122 Namen mit den
dazugehörigen Geburtsdaten.
»Dass
er uns die Geburtstage mitgeliefert hat, macht die Sache um einiges leichter«,
fiel Hain dazu ein, der die Papiere überflog. »Die Füchse sind drauf, und auch
Werner Schlieper. Das bedeutet, dass die Daten so schlecht nicht sein können.«
»Und
wo fahren wir jetzt zuerst hin, nachdem wir diese Liste mit der Bitte um die
Klärung der Aufenthaltsorte bei den Kollegen abgegeben haben?«, fragte Lenz
mehr sich selbst als seinen Kollegen. »Zu dem ehemaligen Erzieher nach Vellmar
oder zu Werner Schlieper?«
Hain rümpfte die Nase.
»Von ehemaligen Heimzöglingen haben wir nach den Auftritten von diesem Melchers
und dem einen Fuchs für heute doch genug? Andererseits könnte uns dieser
Schlieper vielleicht eher weiterhelfen als dieser Grufti, ähh, ich meine
Pensionär.«
Lenz dachte einen Moment
nach. »Zur Kaserne«, ordnete er im Befehlston an.
*
Die
Ausbildungsstätte lag oberhalb des Bahnhofs Wilhelmshöhe, in einer Seitenstraße
der Eugen-Richter-Straße. Selbst Hains Navigationssystem konnte
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