Schmuddelkinder - Lenz sechster Fall
Fehlen jeglichen pädagogischen Konzeptes vonseiten der
Anstaltsleitung. Wir wurden verwaltet und verwahrt, nicht mehr.«
Wieder blickte Lenz sich
um. »Aber bei Ihnen ist es doch offensichtlich ganz anders gelaufen. Was ist
passiert, das Ihnen das Gefängnis erspart hat?«
Schlieper kniff die
Lippen zusammen und schloss für einen Moment die Augen. Dann legte er die Hände
vor sich auf den Tisch. »Meine beiden Elternteile sind 1970 bei einem
Autounfall ums Leben gekommen. Ich war der einzige Sohn, und mein Patenonkel,
ein Polizist übrigens, erklärte sich bereit, mich bei sich im Haushalt
aufzunehmen. Das hat allerdings nicht funktioniert, was zum Teil natürlich auch
an mir gelegen hat. Ich habe ihm wohl ein paar Widerworte zu viel gegeben, und
damit war für ihn das Maß voll. Zwei Tage später stand ich mit einem kleinen
Koffer in der Hand und jeder Menge Schmerzen im Bauch vor Pavillon 2 des
Karlshofs. Ich war knapp 13 Jahre alt, hatte von Tuten und Blasen keine Ahnung,
weil ich aus einem Dorf in der Rhön kam, und habe in der Nacht meiner Ankunft
so dermaßen die Fresse vollgehauen bekommen, dass ich eine Woche nur flüssige
Nahrung zu mir nehmen konnte und im Gesicht aussah wie eine Skulptur von
Frankenstein. Das war mein Einstieg.«
»Haben Sie nie daran
gedacht, sich in eine andere Einrichtung verlegen zu lassen?«
»Keine Chance. Einmal
Karlshof, immer Karlshof. Ich wollte schon am Morgen des zweiten Tages abhauen,
aber mir war bei aller Demütigung und allem Schmerz klar, dass meine Situation
sich dadurch nicht verbessern würde.«
»Was haben die Erzieher
unternommen, als sie Sie sahen?«
»Die haben erstmal gefrühstückt.
Zum Arzt haben sie mich jedenfalls nicht gehen lassen. Vermutlich hatten sie
Angst, dass dadurch was an die Öffentlichkeit geraten würde. Dass publik werden
könnte, wie viel Gewalt und Terror es im Karlshof gibt.«
»War es wirklich so
schlimm?«, fragte Lenz ein wenig verlegen.
»Schlimmer.« Über das
Gesicht des braun gebrannten Mannes huschte die Andeutung eines Lächelns. »Aber
Sie wollten doch wissen, was bei mir so ›schrecklich schiefgelaufen‹ ist, dass
ich eben nicht im Knast gelandet bin.«
»Gern, ja.«
»1976 habe ich während
eines Landschulheimaufenthaltes ein Mädchen kennengelernt, aus Homberg. Sie ist
übrigens noch heute die Frau, mit der ich sehr gern und sehr glücklich
verheiratet bin, aber das nur als Randnotiz. Zunächst war es schwierig für uns,
weil ich eben ein Karlshöfer war, und mit denen gaben sich anständige Mädchen
aus der Gegend um Wabern nun mal nicht ab. Ihr Vater war, wie alle anderen in
ihrer Familie auch, am Anfang strikt dagegen, dass wir miteinander
gingen
, wie es damals hieß, aber mit
der Zeit hat er gemerkt, dass ich kein allzu übler Bursche bin. Er war Lehrer
und ein ganz feiner Mann, dessen Tod letztes Jahr mich sehr, sehr traurig
gemacht hat. Er hat mich unter seine Fittiche genommen, was nicht immer ganz
einfach gewesen ist, weil da zwei Dickköpfe miteinander auskommen mussten, aber
es hat letztlich geklappt. 1980 haben meine Frau und ich geheiratet, im Jahr
darauf habe ich mein Abitur gebaut und bin danach bei der Bundeswehr
eingestiegen. Allerdings, wie gesagt, ohne denen von meiner Vergangenheit im
Karlshof zu erzählen.«
Lenz zog anerkennend die
Augenbrauen hoch. »Meinen Glückwunsch, Herr Schlieper. Ihr Leben hätte auch
anders verlaufen können.«
»Danke. Eigentlich hätte
es anders ausgehen müssen, und ich bin bis heute meiner Frau und ihrer Familie,
speziell ihrem Vater, zutiefst dankbar, dass mir das durch ihre Hilfe erspart
geblieben ist.«
»Können wir Ihnen
trotzdem noch ein paar Fragen stellen zu Namen von damals?«
Der große Soldat atmete
tief ein und wieder aus. Er wirkte auf Lenz, als sei ihm eine Zentnerlast von
den Schultern genommen worden. »Natürlich«, gab er freundlich zurück.
»Können Sie sich an das
Brüderpaar Fuchs erinnern?«
Nun lachte Schlieper
sarkastisch auf. »Klar kann ich das. Jeder Mensch, der einmal mit denen zu tun
hatte, wird sich zeitlebens an sie erinnern.«
»Warum?«
»Sind Sie sicher, dass
Sie das wirklich wissen wollen?«
»Ja.«
»Weil das die größten
Dreckschweine sind, die jemals auf dieser Erde gelebt haben. Deshalb.«
Hain kramte seinen
Notizblock hervor. »Das ist starker Tobak, Herr Schlieper«, sagte er.
»Und
es ist noch eine Untertreibung, Herr Kommissar. Wenn die Füchse Lust
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