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Schmuddelkinder - Lenz sechster Fall

Titel: Schmuddelkinder - Lenz sechster Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias P Gibert
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hatten,
jemandem weh zu tun, und das hatten sie eigentlich immer, gab es keine Rettung.
Man konnte beten, bitten, wimmern und weinen, es hat nichts geholfen. Sie haben
erst aufgehört zuzuschlagen, wenn man aus allen Löchern geblutet hat. Und oft
auch dann noch nicht.«
    »Gab es überhaupt keinen
Schutz durch die Erzieher?«
    »Die hatten doch selbst
Angst vor denen. Bleiben wir bei Dieter Bauer, der war in der ganzen Zeit, in
der ich im zweiten Pavillon war, mein Gruppenerzieher. Und in all den Jahren
hat er nicht ein einziges Mal eingegriffen, wenn die Füchse sich einen
rausgesucht hatten.« Er schüttelte traurig den Kopf.
    »Wissen Sie, wie man
damals Erzieher wurde?«, wollte er von den Kommissaren wissen, die sich fragend
ansahen.
    »Na ja, durch eine
fundierte Ausbildung, würde ich sagen«, erwiderte Hain.
    Schlieper lachte erneut
laut auf. »Das wäre schön gewesen. Nur leider war es nicht so. Mitte der
60er-Jahre gab es einen eklatanten Erziehermangel im LWV. Die männliche
Kriegsgeneration war tot oder alt, und die Zahl der Zöglinge stieg rasant.
Beatmusik und das Aufkeimen der ersten Ansätze von Auflehnung gegen das, was
man später den Muff von tausend Jahren nennen würde, brachten viele Jungs und
auch ein paar Mädchen ins Heim. Die Pille war damals, wegen der geltenden
Moralvorstellungen, noch lange nicht so verbreitet wie heute, deswegen haben
oft Kinder Kinder bekommen, die in vielen Fällen bei Pflegefamilien oder im
Heim gelandet sind.«
    Er
nahm einen Schluck Wasser. »Wie auch immer, es gab in diesen Jahren einen
Erziehernotstand, den der LWV dadurch beseitigt hat, dass er wahllos Bäcker,
Monteure, Fleischer oder was weiß ich für Menschen in viermal vier Wochenkursen
zu Erziehern weitergebildet hat. Der Abschluss galt zwar nur innerhalb des
Landeswohlfahrtsverbandes, aber das hat ja gereicht. Und mit diesem bunt
zusammengewürfelten Haufen mussten wir als Zöglinge dann zurechtkommen.«
    »Wow«, machte Hain.
    »Ganz richtig. Wow ist
das richtige Wort dafür. Manche von denen waren nämlich so dämlich, dass es
selbst einem Pimpf wie mir aufgefallen ist. Neben der alltäglichen und
allgegenwärtigen Gewalt der Zöglinge untereinander gab es nämlich noch die
Gewalt, die von den Erziehern ausgeübt wurde, und das war nicht immer, obwohl
das auch viel zu häufig vorkam, nur physische Gewalt. Die haben zum Beispiel
unser Taschengeld und unser Kleidergeld verwaltet. Ich kann Ihnen nicht mehr
genau sagen, wie viel das war, aber für damalige Verhältnisse war es sehr viel
Geld. Und wenn den Erziehern etwas nicht gepasst hat, haben sie einfach das
Taschengeld oder das Kleidergeld gesperrt. Das Blöde daran war nur, dass nicht
verbrauchte Mittel mit Ende des Abrechnungsmonats komplett und
unwiederbringlich verfielen. Was nichts anderes hieß, als dass man der Willkür
dieser Menschen völlig ausgeliefert war.«
    »Gab es keinen Ombudsmann
oder etwas Ähnliches?«, fragte Hain.
    Wieder das herzhafte
Lachen von Schlieper. »Wo denken Sie hin? Das waren die 70er, da hat man über
so etwas noch nicht nachgedacht.«
    »Aber es gab doch sicher
einen Heimleiter, an den man sich hätte wenden können?«, bohrte der
Oberkommissar weiter.
    »Einen Heimleiter gab es,
ja. Ich kann mich sogar noch an seinen Namen erinnern. Und daran, warum er mir
so genau in Erinnerung geblieben ist.«
    »Ja?«, fragte Hain
neugierig.
    »Es
muss irgendwann 1975 oder 1976 gewesen sein, als bei uns auf der Gruppe ein
neuer Erzieher angefangen hat, Michi aus Kassel. Ein echter Erzieher, der die
Berufsbezeichnung auch verdient hatte. Zeitgleich mit ihm fing seine Freundin
an, eine wirklich hübsche Frau, hinter der die größeren Jungs immer
hergepfiffen haben, wie ich mich erinnere. Die beiden waren überall bei den
Heimbewohnern beliebt und eine Art Anlaufstelle für alle Fragen, die sich aus
der Pubertät und den daraus folgernden Veränderungen des jungen Menschen
ergaben. Sie waren einfach für uns da, wenn wir sie brauchten. Und sie fuhren
ein cooles Auto, zumindest für damalige Verhältnisse. Einen Jeanskäfer. Kennen
Sie den?«
    Die beiden Kripobeamten
schüttelten den Kopf. Thilo Hain etwas energischer als sein Kollege.
    »Das war ein Käfermodell
in Quietschgelb mit Sitzbezügen aus echtem Jeansstoff. Wir Jungs haben ihn
geliebt, weil er eben cool war.« Der Soldat legte die Stirn in Falten. »Na ja,
zumindest für damalige Verhältnisse«, schränkte er

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