Schnappschuss
nach Hause. Sie war gerade damit fertig geworden, die letzten Ergebnisse in der Fallakte zu notieren. Ein Blick in Janine McQuarries Finanzen hatte in den letzten zwölf Monaten keinerlei Schulden oder ungewöhnliche Geldbewegungen aufgewiesen. Janine war relativ wohlhabend gestorben: Spareinlagen, Aktien und Fondsanteile von insgesamt dreihunderttausend Dollar. Aber Robert war ebenfalls wohlhabend, Mord aus Habgier konnte also wohl ausgeschlossen werden. Auch auf Janines Computern, in ihrer E-Mail und der herkömmlichen Post fand sich nichts, das auf einen Liebhaber oder sonst irgendetwas nicht ganz Hasenreines oder Verborgenes hindeutete – mal abgesehen von den Fotos.
Schließlich hatte Ellen mit Hilfe des Gatten, der Schwester, der Geschäftskollegen und der Frau des Super alle identifiziert, die bei der Beerdigung dabei gewesen waren – Kollegen, Freunde, Verwandte –, es hatten also keine Fremden teilgenommen, was aber nicht heißen musste, dass der Mörder nicht anwesend war. Außerdem hatte sie Georgia Fotos von Raymond Lowry gezeigt, doch Georgia hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt: »Den hab ich noch nie gesehen.«
Ellen hatte also recht viel geschafft für einen Tag, doch sie wollte immer noch nicht heimgehen. Dafür gab es zwei Gründe, wobei der eine unglücklicherweise mit dem anderen zu tun hatte, diesen aber bei weitem überwog – wie sie glaubte.
Erstens hatte sie am Vormittag im Erdgeschoss ihren Mann getroffen, in Begleitung eines Ermittlers von der Inneren Revision. Sie hatten gerade ihre Befragungen von Pam Murphy und John Tankard beendet, und Alan sah richtig selbstzufrieden aus. Sie musste sich von ihm einen Kuss auf die Wange geben lassen, und er hatte sie zu einem Kaffee in die Kantine eingeladen. Sie hatte sich schnell wieder gefasst und die Einladung abgelehnt, woraufhin Alan gesagt hatte: »Dein Hal scheucht dich ganz schön rum, hm?« Argwohn und Enttäuschung lagen dabei ganz nah unter der Fassade eines Lächelns.
Sie konnte Alan einfach nicht mehr ertragen.
Zweitens führte Hal Challis heute Abend Tessa Kane zum Essen aus.
Angeblich um sich im Namen der Polizei dafür zu bedanken, dass sie Joe Ovens zu ihnen gebracht hatte. Aber für Ellen steckte noch mehr dahinter. Challis und Kane waren mal ein Liebespaar gewesen – und es gab keinen Grund, warum dies nicht wieder so sein konnte, und sei es nur für eine Nacht, heute Nacht, den alten Zeiten zuliebe oder einfach nur aus Verlangen. Sie waren doch frei, oder nicht? Anders als ich, dachte Ellen und betrachtete das kleine Arrangement an Familienfotos auf ihrem Schreibtisch: Larrayne als Kleinkind und später als Teenager, Alan, als er noch jung und liebenswert war.
Ihre Fantasie ging mit ihr durch. Das war wie damals mit achtzehn oder neunzehn, als sie vor Neugier nur so brannte, was ihr Freund denn gerade machte. Ihre Gefühle waren kindisch, aber mächtig.
So mächtig, dass sie Alans Foto in die unterste Schublade stopfte und mit ihrem Wagen ziellos durch die dunklen Straßen fuhr.
»Was ist los?«, fragte Tessa Kane, während sie sich ihr Dinnerbrötchen mit Butter bestrich. »Ich dachte, du wolltest dich bei mir bedanken, dass ich Joe Ovens zu euch gebracht habe. Stattdessen machst du ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.«
Challis hatte sich mit dieser Einladung zum Essen tatsächlich bei Tessa bedanken und das Universum wieder ein wenig zurechtrücken wollen. Doch das war vor seiner Unterredung mit McQuarrie gewesen. Nun spielte er mit dem Essen herum und fragte sich wo anfangen. Die beiden saßen in einem Bistro in Mornington, einem der wenigen, die an diesem eisigen Montagabend im Winter geöffnet hatten. Es gab nur wenige Gäste. Die Einrichtung und die Speisekarte waren leicht mediterran angehaucht. Tessa wirkte müde: der Druck, alles für die morgige Ausgabe druckfertig zu haben. Challis fand die Geräusche aus der Küche zu laut, das sanfte Licht zu düster, und der Raum bot keinerlei Rückzugsmöglichkeit vor McQuarries Neuigkeiten oder dem eisigen Wind und der schwarzen Nacht außerhalb der Fenster.
»Du verheimlichst mir etwas«, sagte er.
Tessa erstarrte. »Ach ja?«
»McQuarrie zufolge bist du im Besitz gewisser Fotos.«
»Hat Robert dir das erzählt?«
»Sein Vater.«
»Ach so. Und er hat dich geschickt, um mich zu verscheuchen.«
»Das hat nichts mit ihm zu tun, sondern mit meinen hart arbeitenden Kollegen im Allgemeinen und deinen beruflichen Kontakten zu mir im Besonderen.«
Sie
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