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Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Titel: Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Witzel
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irgendeinem diffusen Stolz darauf, dass ein Ost-Broiler nun schon seit fünf Jahren – es kommt einem länger vor, oder? – ganz Deutschland regiert. Im Gegenteil: Es hängt dort zur Mahnung, was passieren kann, wenn man nicht schon in frühen Jahren ein wenig auf Charakterhygiene achtet.
    Die junge Angela, auf dem Foto knapp 18 Jahre alt, lächelt gequält. Es ist der Tag ihrer Zeugnisausgabe, und weil sie die sozialistische Volksbildung mit lauter Einsen absolvierte, hat man ihr die Lessingmedaille verliehen. Dafür kann sie nichts. Die habe ich auch bekommen. Aber so, wie sie guckt, ahnt sie vielleicht doch schon, wie das eines Tages wirken könnte, wenn eine Pfarrerstochter dafür über ihren weißen Rollkragenpullover aus dem West-Paket extra noch ein FDJ-Hemd zieht. Die »kühle Strategin«, »Physikerin der Politik«, oder was ihr westdeutsche Bewunderer später noch andichten werden, fühlt sich offensichtlich nicht ganz wohl darin. Dennoch hat sie sich tapfer für die Uniform der SED-Kampfreserve entschieden.
    Es mag nur ein Indiz sein, ein kleiner Schritt zu viel. Eine Lappalie für den modernen Opportunisten von heute. Und doch erklärt das blaue Hemd selbst auf dem alten Schwarz-Weiß-Foto immer noch mehr als alle ratlosen Kommentare über voreilige Bekenntnisse zu westdeutschen Lügenbaronen, vorauseilende Zugeständnisse an westdeutsche Energiekonzerne oder vorchristliche Schadenfreude, wenn der globale Westen einem kranken, unbewaffneten Opa in Pakistan ein Auge aus dem Kopf schießt.
    Das FDJ-Hemd war an diesem Tag sicher gern gesehen, aber auch nicht unbedingt nötig. Mit den Zensuren im Sack gehörte nicht mal Mut dazu, etwas anderes, halbwegs Feierliches anzuziehen. Mein Konfirmationsanzug zum Beispiel war über den Schuhen schon ziemlich kurz. Trotzdem haben sie mir die blöde Medaille auch dort angesteckt – und heute bin ich froh, dass es von mir keine Fotos im FDJ-Hemd gibt.
    Vermutlich werde ich deshalb auch nie Bundeskanzler, Chefredakteur oder Elternsprecher. Mir fehlen die nötigen System-Streber-Gene. Westdeutschen Gut-und-Böse-Fundamentalisten fehlen dafür oft die Antennen für Leute, die sich vor lauter Strategie und Berechnung eben auch mal strategisch verrechnen. Nach Jahren der vorauseilenden Verehrung schreiben sie nun plötzlich vorzeitige Nachrufe auf die Kanzlerin oder fühlen sich wie die Schriftstellerin und Merkel-Wählerin Cora Stephan gar an Honecker erinnert. Dem ist wenig zu entgegnen, außer: An wen denn sonst?
    Funktionäre funktionieren in jedem System. Das spricht auch nicht gerade für dieses. In der DDR war der Balanceakt zwischen den Erwartungen der Lebenslaufverwalter und der persönlichen Schmerzgrenze dabei vielleicht noch etwas folgenreicher als heute, wenn ich meinem Chef aus dem Westen – da kommen sie leider alle her – ehrlich sage, was ich denke. Auf jeden Fall, aber das können Westdeutsche nicht wissen, musste eine über 30 Jahre alte Physikerin nach dem Studium nicht zwangsläufig immer noch Funktionen in der FDJ ausüben. Man musste überhaupt viel weniger, als wir alle damals glaubten – und heute gern als Ausrede benutzen.
    Man konnte zum Beispiel auch ein guter Lehrer sein, ohne von Kollegen einen »festen Klassenstandpunkt« zu fordern, wie es der spätere Ministerpräsident von Thüringen tat, lange bevor er sich nach seinem Skiunfall einen besser bezahlten Job als Auto-Lobbyist suchte. Man musste auch nicht unbedingt Karriere beim Rat des Kreises machen wie der heutige Ministerpräsident von Sachsen, der dafür noch im Sommer 1989 Floskeln wie »zu Ehren des 12. Parteitages der SED« benutzte. Manchmal bin ich nicht mal sicher, ob das Motto dieser Kolumne deshalb auch einem Muster-Wendehals wie Stanislaw Tillich zusteht.
    »Ich habe es satt, mir von Leuten aus dem Westen mein Leben erklären zu lassen«, polterte er, als in seinem Lebenslauf immer neue Schummeleien auftauchten. Dabei muss ihm das im Westen eigentlich nicht mal peinlich sein. Solange es nur um die Karriere ging, versteht das dort jeder. Von den eigenen Leuten allerdings, die mit seiner Biografie kurz nach dem – Achtung: böses altes Wort – Anschluss keinen Job als Pförtner in einem staatlichen Kindergarten bekommen hätten, muss er sich schon mal fragen lassen, ob er nicht seit Jahren unter extremen Nackenschmerzen leidet.
    Wahrscheinlich nicht: Es sind schmerzfreie Menschen, die immer auf der richtigen Seite stehen oder schnell die Seite wechseln, wenn die

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