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Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Titel: Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Witzel
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Lidl – ganz egal. Damit bestücke ich parallel drei Mikrowellen, wickele die Viecher in Zeitungspapier und schäme mich auch ein wenig für den Preis, den mir Westdeutsche an geheimen Treffpunkten für die toten Vögel bezahlen.
    Es ist kein schlechtes Geschäft – leider alles schwarz, aber die Gesetze der Marktwirtschaft zwingen mich dazu. Die Nachfrage reißt einfach nicht ab, seit eine Freundin von uns im Advent spontan ihre neue Kollegin vom MDR zu einem Essen bei uns zu Hause mitbrachte. Das ist in Ostdeutschland nach wie vor üblich, auch wenn sich schnell herausstellte, dass die fremde Mitesserin solche Gepflogenheiten gerade erst kennen lernte. Aus Mangel an Gesprächsstoff lobte sie unablässig unser geschmortes Kaninchen und brachte mich schließlich mit der Feststellung in Verlegenheit, dass man artgerechte Haltung eben doch schmecke. Unsere artgerechte Freundin verdrehte entschuldigend die Augen. Ich murmelte etwas vom Schwager auf dem Land und wich Nachfragen aus, was die neue Leipzigerin offenbar als Beleg für eine besonders wertvolle Nahrungsquelle nahm. Jedenfalls klingelte schon zwei Tage später das Telefon. Jemand hätte gehört … Ob es stimme … Man kenne sich noch nicht so aus … Die Dialekte waren eindeutig, ebenso die Bettelei, dazugehören zu wollen – wozu auch immer. Aber umso konspirativer ich versuchte, MDR-Redakteure und deren mitgebrachte Ehefrauen abzuwimmeln, desto mehr verbreitete sich das Gerücht in diesen Kreisen.
    In meiner Not fragte ich einen Bauern auf dem Wochenmarkt, bei dem sie am Wochenende alle mit ihren Weidenkörbchen vorbeistolzieren. Der sah mich lange prüfend an, dann grinste er und nahm mich mit in seine Bude. Unter der Theke, dreister ging es kaum, lagen Kartoffelnetze aus dem Supermarkt, daneben eine Babywanne mit feuchter Erde. Er zeigte mir, wie man die Kartoffeln darin wendet, und verriet mir auch noch den Trick mit seinen Bio-Enten. Es ist nicht ganz fair, aber so ist das nun mal in der Betrüger-Marktwirtschaft: Seitdem hat der gutgläubige Ex-LPG-Bauer Konkurrenz. Und meine Kunden, nun ja, sind auch begeistert.
    Dass Westdeutsche jeden Scheiß für bare Münze nehmen, gehört zu den erschütternden Erfahrungen nach der so genannten Wiedervereinigung. In den ersten Jahren konnte man sie noch mit halbwegs wahren Geschichten über das unmenschliche Leben in der DDR beeindrucken, traurig meistens, klar, manchmal auch lustig, FKK und so weiter. Schau mal an, die Zonis – staunten sie dann – hatten doch auch so was Ähnliches wie Alltag. Hörten Radio und schleuderten ihre Wäsche (beides elektrisch), ernährten sich zwar ausschließlich von sauren Gurken und süßem Sekt, aber putzten sich hinterher sogar die Zähne – mit Zahnpasta. Alle Achtung!
    Bei einem Vorstellungsgespräch Anfang der neunziger Jahre fragte mich mal ein einschüchternd legendärer Chefredakteur in Hamburg, was ich von den Wahlergebnissen der PDS halte, die seinerzeit für seinesgleichen noch echt schockierend waren. Ich wusste damals schon, dass man im Westen nicht lange nachdenken und vor allem nicht stottern darf, wenn man keine Ahnung hat, und antwortete entschieden: Nichts. Alles nur Trotz, ein Strohfeuer, bald kein Thema mehr. Die Antwort gefiel ihm, vielleicht auch nur mein Stakkato. Aber seitdem war mir klar: Man kann Westdeutschen alles erzählen, es muss nur halbwegs in ihr Weltbild passen und zum Beispiel so teuer sein wie eine handgerupfte Bio-Ente, dann schmeckt sie auch so.
    Irgendwann war über Kaffeeersatz und Schlangestehen dennoch alles erzählt. Allein die Geschichte vom Trabi, den jede Ost-Oma zur Geburt der Enkel bestellte, damit er rechtzeitig zum Führerschein lieferbar war, wollten sie immer wieder hören und protestierten, wenn man das mit ihren Bausparverträgen verglich. Es mangelte an neuen Mangellegenden. Wir mussten die Dosis erhöhen. Eine Zeitlang gefielen mir noch ihre großen Augen, wenn ich beiläufig die Kerben erwähnte, die wir für jeden Abschuss an der Grenze in den Stahlschaft der Kalaschnikow schnitzten. Auch nahm ich die Russen gern in Schutz, in deren Kaserne zwar jede Woche eine junge Frau abzuliefern war – aber nicht unbedingt Jungfrauen, schließlich seien das auch keine Unmenschen gewesen.
    Wenn es nicht Tierquälerei wäre, könnte man ihnen immer neue Bären dieser Art aufbinden. Das Verheerende ist allerdings, dass sie das Meiste davon nicht nur glauben, sondern auch weitererzählen. Selbst wenn man hinterher

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