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Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Titel: Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Witzel
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»verdruckst« oder »Unsicherheit«. Insofern wäre »Ostdeutsch-Westdeutsch« auch eine Art Fremdwörterbuch.
    Echten Nutzwert – etwa für ostdeutsche Hooligans in westdeutschen Kleinstädten oder westdeutsche Studenten an ostdeutschen Unis – brächte das Werk allerdings erst, wenn es nicht nur synonyme Begriffe alphabethisch auflistet, sondern typische Kommunikationsfallen zu vermeiden hilft. Denn häufig bedeuten selbst scheinbar schlichte Schimpfwörter wie »Wessi« mehr als nur »Arschloch«. Was früher ein »Timur-Helfer« war, kann man nicht automatisch mit »Ein-Euro-Jobber« übersetzen. Ein »Ärztehaus« dagegen ist nichts weiter als eine »Poliklinik«, die 10 Euro Eintritt verlangt (200 Mark!). »Patenbrigaden« gibt es auch wieder, allerdings macht das moderne Sozialmarketing eine Initiative Schule – Betrieb daraus, was wiederum seltsam ostdeutsch klingt. Aus »gesellschaftlicher Arbeit« wurde »Ehrenamt«. Oft sind die neuen Wörter noch verwirrend, aber wir haben in der Schule eben auch viel marxistischen Quatsch gelernt.
    Bis 1989 war in unseren Geschichtsbüchern beispielsweise noch von »Sklavenhaltern« die Rede, heute steht einfach »Personaldienstleister« an deren Bürotür. Hinter der halbwegs ehrlichen Abkürzung »KIM« (Kombinat Industrielle Mast), das wusste jeder, verbargen sich Geflügelfabriken. Heute steht Wiesenhof auf den Viechern in der Tiefkühltruhe, als hätten sie vorher ein sorgenfreies Hartz-IV-Leben geführt wie wir. »Einmarsch«, »Überfall« oder »Invasion«, wie das im Westen zu sowjetischen Zeiten in Afghanistan noch hieß, fasst man als »kriegsähnlichen Hilfseinsatz« zusammen. Statt in »ESP«, der »Einführung in die sozialistische Produktion«, bereiten sich Schüler und Studenten heutzutage in so genannten »Praktika« auf weitere Jahre unbezahlter Arbeit nach der Ausbildung vor. Wer dabei im Büro etwas »ablichtet« statt »fotokopiert«, muss nur aufpassen, dass er wegen seiner ethnischen Herkunft keine Nachteile erfährt. Und Obacht: »Bewährung in der Produktion« wird heute gern als »Zielvereinbarung« im »Mitarbeitergespräch« verharmlost.
    Richtig schwierig wird es allerdings erst, wenn vertraute Redewendungen das Gegenteil meinen. Kündigt etwa ein Westdeutscher seine Heimreise an, wünscht man ihm in der Regel von Herzen »gute Reise«. Trotzdem sorgt das auf beiden Seiten für ein gewisses Unbehagen. Wie haben die das gemeint? Kommt er vielleicht wieder? Reden wir jetzt schon zwischen den Zeilen aneinander vorbei? Innerdeutscher Subtext ist immer riskant und fängt schon mit der Frage an, »wie es so geht«. Ostdeutsche möchten dann wissen, wie es so geht. Auf Westdeutsch dagegen bedeutet die gleiche Frage: »Sag jetzt nichts, ich will von mir erzählen.«
    Habe ich das fehlende Wörterbuch weiter oben »Westdeutsch-Ostdeutsch« genannt? Da sieht man mal, wie degeneriert wir schon sind. Natürlich muss es »Westdeutsch-Deutsch« lauten. Die wissen ja nicht mal, dass »Schnauze« Schnauze heißt – und nicht: »Schreib einen Kommentar!« Also bitte, Langenscheidt, Beeilung! Alle anderen sprechen es noch einmal nach: Schnauze!

»Der nahe wilde Osten, geschändet bis aufs Blut –
erst lebenslänglich Zukunft, dann pfänden wir die Wut.«
    Heinz Rudolf Kunze, Verraten und Verkauft, 1992
     

Liebe nahe Ossis
     
    Bis 1989 waren wir noch der Feind. Seitdem lässt der globale Westler seine Neurosen an Euch aus. Eine Entschuldigung.
     
    Liebe Araber, Nordafrikaner, Muslime – liebe nahe Ossis! Das schlechte Gewissen plagt mich schon länger, aber erst seit ahnungslose Westdeutsche die blutigen Unruhen in Ägypten, Libyen und Hamburg-Billstedt ständig mit unserer viel zu friedlichen Revolution vergleichen, ist mir vollends klar, was wir Euch damals angetan haben.
    Mit dem Ostblock verlor der Westen 1989 seinen wichtigsten Feind. Heute tut er zwar so, als hätte er den kalten Krieg aus eigener Kraft gewonnen – so wie er die Opposition bei Euch schon immer heimlich unterstützt hat. Als hätte er die Mauer eingerissen und Geschäfte mit Diktatoren stets nur zum Schein getrieben. Aber letztlich, da können sie die Geschichte drehen, wie sie wollen, bleibt es unsere Schuld, dass Ihr seitdem an allem Schuld seid.
    Das, sollt Ihr wissen, tut uns leid. Das wollten wir nicht! Wer konnte auch ahnen, dass Ihr die Nächsten seid? Dass die selbsternannte Erste Welt immer eine Zweite braucht, um sich wirtschaftlich und moralisch überlegen zu

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