Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)
Seiten wechseln. Seltsamerweise haben sie es auf jeder Seite leicht, auch und gerade in den letzten 20 Jahren. Oder muss man sagen: Bezeichnenderweise?
Immer noch fliegen ständig Stasi-Zuträger auf, die sich nach 1990 offenbar besonders gut als Präsidenten von Industrie- und Handelskammern eigneten. Etliche SED-Genossen traten in die CDU ein und sind heute Polizeipräsidenten, Innenminister oder Landräte. Aus den Strebern im alten System wurden so die Musterschüler des neuen. Sie lassen hier ein bisschen Vergangenheit weg, lügen sich dort ein bisschen Mut in die Tasche, weil sie 1989 auch mal bei einer Montagsdemo im Westfernsehen zugeschaut haben. Einmal deformiert passten sie sich wieder bis zur Selbstverleugnung an. Im Persil-Weiß-Westen war das egal. Dort galt ein neues CDU-Parteibuch schon einmal automatisch als Entnazifizierungs-Urkunde.
Ohne Ehrgeiz und Opportunismus dieser Art lässt sich offenbar kein Staat machen, und so ist es nur konsequent, dass Honeckers alter Protokollchef der Volkskammer heute von Politikern aller Parteien für seine geschmeidige Herzlichkeit geschätzt wird, mit der er sie im Berliner Café Einstein platziert. Dass der Futtermittel-Panscher aus dem letzten Eier-Skandal bis 1989 als IM Pluto den Osten mit seinen Berichten vergiftete, bevor er in Niedersachsen mit Dioxin weitermachte. Dass sich ein Stasi-Spitzel der Nachrichtenagentur ADN – nach Einschätzung seiner Führungsoffiziere »äußerst eifrig und initiativreich« – mit diesen Talenten auch nach 1990 als Chefredakteur und Verleger von Glamour-Zeitschriften bis zum »Medienmann des Jahres 2003« durchschlagen konnte …
Ich weiß: Sonst wird an dieser Stelle gern über westdeutsche Postenjäger geklagt, die sich hierzulande immer noch auf wundersame Weise reproduzieren. Aber gerade die haben mit ihren Pendants aus dem Osten kaum Probleme. Es scheint einen bestimmten Menschenschlag zu geben, der ausnahmsweise mal nichts mit Herkunft zu tun hat, und hier wie da – die Guttenberg-Blase zeigt es einmal mehr – offenbar kaum unbelastete Leute, die sich beruflich mit Politik beschäftigen mögen. In Brandenburg regieren Stasi-Spitzel sogar wieder mit, und das demokratische Geschrei darüber hat sich schnell gelegt.
Also bitte: Wieso müssen dann ihre ehemaligen Kollegen ihre Kompetenzen bei der Überwachung von Lidl-Mitarbeitern verschwenden? Kann die nicht der Innenminister – ach so, inzwischen Kriegsminister – gebrauchen? Vater de Maizière – offenbar auch so eine System-Streber-Familie – bekam schließlich auch die Kurve vom Generalstab der Wehrmacht zur Bundeswehr. Können nicht ein paar schießwütige Grenztruppen-Offiziere auf Schnellbooten im Mittelmeer afrikanische Wirtschaftsflüchtlinge jagen? Und was ist mit Margot Honecker als Familienministerin? Hat die nicht mehr Erfahrung mit Kita-Plätzen und Vollbeschäftigung als die letzte Volksbildungs- und jetzige Arbeitsministerin? In Zensurfragen finden Margot, Angela und Ursula sicher auch schnell zueinander.
Als die Mutigsten 1989 noch verprügelt und vom Studium ausgeschlossen wurden, organisierte Angela Merkel das Kulturleben ihrer FDJ-Gruppe. Als die Mauer fiel, saß sie angeblich in der Sauna. Nur deshalb hatte sie gerade kein FDJ-Hemd an und darf sich nun neben der Lessingmedaille auch mit der »Freiheitsmedaille des US-Präsidenten« schmücken. Dabei sein, aber nicht so richtig; immer mal abtauchen, aber rechtzeitig wieder da sein, wenn der Wind dreht – das sind Begabungen, mit denen man jedes Regime überlebt und es in manchen sogar bis zum Regierungschef schafft. Frau Merkels Abschlussarbeit in Marxismus-Leninismus, die eigentlich zur Promotion gehörte, gilt seitdem als verschollen. Vermutlich hat sie die selbst geschrieben. Ihre Stasi-Akten darf auch niemand lesen. Dafür legt sie wert darauf, dass man ihren Vornamen nicht auf der zweiten Silbe betont, wie im Osten verbreitet, sondern auf der ersten wie bei Erika. Mir persönlich würde schon reichen, wenn sie noch mal zugibt, dass sie »gerne in der FDJ« war, so wie sie es Anfang der neunziger Jahre schon einmal Günter Gaus im Fernsehen anvertraute. Dann könnte man – unter feinsinniger Anspielung auf ihren Geburtsort Hamburg – endlich auch mal zur Bundeskanzlerin sagen: Schnauze, Wessi!
»Leute mit verschiedenen Sprachen müssen eben streiten,
wenn sie so dumm sind, miteinander sprechen zu wollen.«
Fritz Mauthner
Asoziale Ärztehäuser - ein Langenscheidt
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