Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)
Art gegen jeden neuen Versuch, wieder zu den einzig richtigen Antworten erzogen zu werden. Sobald ein Bekenntnis verlangt wird wie früher von der SED-Propaganda, werden sie misstrauisch. Was soll ein voll arbeitender Leiharbeiter auch über seine materielle Zufriedenheit sagen, wenn er nicht davon leben kann? Oder auf die dümmlichste Formulierung von allen, ob jemand »im Westen angekommen« sei – je nachdem, wie sehr er sich inzwischen wieder in Anpassung übt? Wir wollten das Volk sein, nicht mehr folgsam. Warum also wählen – und vor allem wen?
Die meisten Ostdeutschen sind alt genug, um noch zu wissen, wer hinter der Linken steckt, aber auch mit 80 noch zu jung für die CDU. Sie sind weder reich noch blöd genug für die FDP, denn wer keine Steuern zahlt, braucht auch keine leeren Steuerversprechen. Niemand hat vergessen, welche Parteien zuerst damit anfingen, wieder in zweifelhafte Kriege zu ziehen, und gleichzeitig die passende Rekrutierungskampagne »Hartz IV« für die »ostdeutsche Unterschichten«-Armee (Michael Wolffsohn) ausriefen. Und wer oder was soll eigentlich heute noch Bündnis 90 an den Grünen sein?
Also bitte, Ihr gutgläubigen Menschen in Rheinland-Württemberg oder wie das heißt: Dies ist kein Wahlaufruf – es sei denn, Ihr wolltet hingehen. Nehmt Euch ausnahmsweise mal ein Beispiel an uns! Es gibt nicht nur die Wahl zwischen Pest und Cholera, zwischen großer Koalition und kleinstem gemeinsamen Nenner, Urne oder Sarg. Man kann an diesem Sonntag auch einfach zu Hause bleiben, etwas im Garten machen oder mit den Kindern. Dann ärgert Ihr Euch hinterher wenigstens nicht. Wahlen – das lehrt die Erfahrung bis 1933 ebenso wie vor und nach ’89 – ändern, bedeuten oder verhindern gar nichts. Die Urne ist der Sarg der Demokratie.
War nicht eine klare Mehrheit seit Jahren für den Atomausstieg, als Eure verstrahlte Regierung die Laufzeiten verlängerte, bis die eigenen Maßstäbe in atemberaubender Halbwertszeit zerfielen? Waren nicht 80 Prozent gegen eine Rechtschreibreform, bis sich alle genauso schnell daran gewöhnten wie an tote Soldaten eines Krieges, den die Mehrheit auch nie wollte? Habt Ihr das Märchen vom Euro wirklich geglaubt? Oder das von irgendwelchen »Märkten«, die Billionen davon in Luft auflösen? Hat man Euch überhaupt mal gefragt, ob Ihr mit uns wiedervereinigt werden wolltet? Hingegangen, mitgehangen. Verwählt. Hinterher könnt Ihr ja Facebook-Gruppen gründen und ein wenig demonstrieren? Meine Güte, Stuttgart 21 – wir haben einen ganzen Polizeistaat ohne Wahl abgewählt!
Leider reicht auch unsere Kraft nur für einen Umsturz alle 50 Jahre, und so regt sich hier niemand mehr groß auf, wenn ein sinnloser Eisenbahn-Tunnel unter Leipzig gegraben wird. Wir dulden sogar einen Oberbürgermeister, der bei einer Wahlbeteiligung von 31,7 Prozent mit 51,6 Prozent gewählt wurde. Wer aus dem Siegerland stammt, fühlt sich auch so, wenn ihn eigentlich nur 16 Prozent wollten. In Baden-Württemberg reicht die gleiche Quote sogar, um Ministerpräsident zu werden. Das heißt aber auch: 84 von 100 Wahlberechtigten wollten weder unseren Bürgermeister noch den Regierungschef in Stuttgart. Ist das die Demokratie, die Ihr meint? Mehr echte Anhänger hatten auch Honecker oder Gaddafi nie. Aber egal: Selbst wenn unser Tunnel nun mit einer Milliarde das Doppelte kostet als geplant – solange das meiste Geld dafür aus dem Westen kommt …
Was ich damit sagen will: Ostdeutsche wissen Demokratie und Freiheit sehr wohl zu schätzen – oder was diese Begriffe bedeuten könnten. Anfangs fühlte sich das sogar richtig wertvoll an, weil wir nichts vom geografischen Zufall oder den Siegern des Weltkrieges geschenkt bekamen. Auch deshalb gehen wir nicht so leichtfertig mit unseren Stimmen um – und behalten sie lieber für uns. Ein bisschen ist das wie mit der Meinungsfreiheit. Vielleicht solltet Ihr das auch mal probieren? In diesem Sinne: Schnauze, Wessi!
»Man kann im Rahmen des Grundgesetzes
wunderbar den Kapitalismus überwinden –
und mehr als das wollen wir auch nicht.«
Sahra Wagenknecht
Kinderarbeit und Aldi-Enten
Zu den vielen Gemeinheiten im Umgang mit Westdeutschen gehört der Quatsch, den sie sich allzu gern erzählen lassen. Ob Gruselgeschichten von früher oder Aufbau-Ost-Exzesse heute – sie glauben alles. Ein Geständnis.
Leider komme ich derzeit kaum zum Schreiben. Ich reiße Tag und Nacht Tüten mit gefrorenen Enten auf, von Aldi,
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