Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)
fühlen. Irgendeine Gefahr, Kommunisten oder Terroristen, Gurken oder Schurken. Als Abschreckung für die eigenen Leute, zur Selbstbestätigung und für die Grundversorgung des Abendlandes mit Angst.
Die ersten zehn Jahre danach wusste keiner mehr, vor wem man sich nun fürchten sollte. Gegen wen wettrüsten? Wohin klugscheißen? China war schon damals zu mächtig, um sich wegen ein paar verschwundenen Künstlern mit dem Reich der Mitte – wer ist dort eigentlich Osten? – anzulegen. Der russische Bär tanzt seitdem selbstvergessen zu American Boy . Irak und Jugoslawien boten sich lediglich als Übergangslösung an, bis 2001 endlich wieder ein ernstzunehmender Gegner auftrat: 19 Männer gegen die USA, ein paar Irre gegen den Westen an sich. Aber immerhin – wahrscheinlich, vermutlich, jedenfalls mutmaßlicher als mutig – Muslime.
Nach allem, was man weiß oder wissen soll, kannten sie sich mit Flugzeugen, im Koran und in Hamburg ganz gut aus und schreckten auch vor tausendfachem Mord nicht zurück. Spätestens danach nahm der schleichende Übergang vom Ost- zum Islam-Bashing offizielle Züge an. Der neue Feind war überall und nirgends, bedrohlich, aber gerade noch beherrschbar – nahezu perfekt für die paranoiden Bedürfnisse des Westens.
Uns müsst Ihr nicht erklären, wie sich das anfühlt: mit durchgeknallten Massenmördern in einem Topf. Wie schwer man da wieder rauskommt – vor allem, wenn man kein Musterschüler ist. Wir kennen das alles, den tadelnden Zeigefinger nach 1945. Sein überhebliches Wohlwollen 1989. Nicht zuletzt das Ende aller Träume, das der Westen selbstgefällig »im Westen ankommen« nennt. Und während sie bei Euch noch am Live-Ticker mitfiebern, mit vielen guten Ratschlägen und ein paar Bomben ihre so genannten »westlichen Werte« vermitteln, können wir nur unser Mitgefühl und einige nicht ganz so wertvolle Erfahrungen mit Euch teilen.
Auch wir wollten das Volk sein, aber der Westen braucht nur Verbraucher. Auch unsere Anführer trugen lange Bärte und Kutten und waren ihm nie ganz geheuer, bis man alle rasiert und auf traurigen Posten ruhiggestellt hatte. Auch wir haben dem Westen vor allem durch Massenflucht zugesetzt und dachten immer, sie hätten auch nur zwei Arme wie wir. Aber sie haben mindestens sechs: Sie können sie gleichzeitig ausbreiten, ablehnend verschränken und sich dabei noch hinterm Rücken die Hände reiben. Auch wir wollten einmal so leben wie sie. Aber sie wollten nur, dass wir so leben, wie sie es wollen . Vor allem nicht ganz so gut. Das nennen sie Integration.
Lasst Euch also nichts erzählen von Recht und Freiheit! Sie meinen nur ihr Recht auf Öl und Eure Freiheit, zwischen zwei Cola-Sorten zu wählen. Schwärmen sie vom »Arabischen Frühling«, fürchten sie allenfalls den eigenen Herbst. Bevor man Hilfe verspricht, beim Aufbau-Ost oder in Libyen, haut man erst mal alles klein. Der Westen exportiert alles, Waffen, Werte, ganz egal. Ob dabei der Ölpreis explodiert oder die Kosten der deutschen Einheit – einer gewinnt immer. Das nennt er Politik.
Eben noch rangelten westliche Konzerne um Bohrlizenzen in Libyen. Nun betanken sie die Bomber für die Flurbereinigung. Eben empfing man die Mubaraks und Honeckers dieser Welt noch mit militärischen Ehren, gewährte Milliardenkredite oder stattete Folterkollegen in Tunesien und Jordanien mit deutscher Polizei-Technik aus. Doch auf einmal werden resozialisierte Terroristen wie Gaddafi nicht mehr zu G-8-Gipfeln oder zum Camping nach Paris eingeladen. Eben hat man ihn noch mit Waffen ausgerüstet und entrüstet sich nun, wenn er die auch benutzt. Eben noch drückten »lupenreine Demokraten« wie Berlusconi oder Gerhard Schröder beide Augen zu; Guido Westerwelle richtete dem Revolutionsführer warme Grüße der Kanzlerin aus. Jetzt bringt er den neuen Revolutionsführern Medikamente mit. Meist sind es ehemalige Funktionäre, vielleicht sogar die künftigen Schurken – aber sicher haben die Wendehälse aus dem Westen auch etwas gegen steife Nacken dabei.
Es geht nicht um Menschenrechte, wenn sie sich irgendwo auf der Welt »engagieren«, sondern immer nur darum, was sonst noch zu holen ist. Deshalb seid Ihr im Jemen auf Euch allein gestellt, genau wie wir damals in der kleinen dreckigen DDR. Erst nachdem wir uns selbst befreit hatten, kamen die Besatzer. Und bei aller Zurückhaltung mit Nahost-Vergleichen, den Konflikten rund um Israel oder Kleinmachnow: Was Vertreibung,
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