Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)
mal, was Hausaufgaben sind – und uns, dass sein Freund schon mehrfach die Schule wechseln musste, weil er immer gemobbt wurde, immer von den anderen. Wenigstens aber, so der subtile Vorwurf an uns, halten Finn-Oles Eltern zu ihm, wenn es um angemessene Bewaffnung auf dem Schulhof geht oder die neue Gesten-Steuerung für die Xbox, über die Kevin bei der Gelegenheit auch gleich noch mal reden will.
Sein Bruder verdreht die Augen. Justin ist schon 13 und »hasst« solche Debatten am Abendbrottisch. Abendbrot neuerdings auch. Er will lieber zurück in den Chat und den anderen mitteilen, dass in der letzten halben Stunde nichts Mitteilenswertes passiert ist, außer dass ihm ein paar unnötige Kalorien aufgenötigt wurden. Leider fühlt auch er sich nicht nur zu den einheimischen Mandys und Chantals hingezogen. Den Ton in seiner Klasse gibt ein schwindsüchtiges Mädchen an, deren Eltern aus … – aber lassen wir das.
Es sagt sich immer so leicht: Wenigstens unsere Kinder sollten wir damit nicht auch noch vergiften. Sie hätten doch nichts mehr zu tun mit dem kalten Krieg, zweiter Besatzung und dritter Enteignung. Für sie soll Herkunft eines Tages keine Rolle mehr spielen: Ost oder West – im Jahr 2066 vielleicht. Ein ehrgeiziges Ziel, ich weiß, aber wir geben uns Mühe.
Schon im Kindergarten war nicht zu übersehen, wer am lautesten »ich« schrie und sich auch sonst auffallend asozial aufführte. Fast immer zeigen dazugehörige Eltern bei Sommerfesten oder Elternabenden (siehe Seite 76) ähnliche Verhaltensmuster. Ich möchte nicht so weit gehen wie Thilo Sarrazin mit seiner Genforschung, aber manches geben wir selbst sicher auch weiter. Fleiß und Hilfsbereitschaft etwa oder zweifelhafte Erblasten einer Diktatur wie diesen ohnmächtigen Zorn.
Nach meinem »letzten Wort« zur Pumpgun rennt der kleine Amokläufer jedenfalls wütend in sein Zimmer. Justin deckt ab, trägt den Müll runter und fragt, ob sonst noch was zu tun sei. Alles ganz normal bei uns. Bevor er sich ins Internet zurückzieht, »um noch ein paar Vokabeln zu lernen«, möchte er außerdem wissen, was denn nun mit diesem Wochenende sei.
Ausgerechnet das verhaltensauffälligste Mädchen seiner Klasse hat zu einer Pool-Party eingeladen, mit Reiten und Übernachten – angeblich ohne Alkohol. Offenbar sind wir die einzigen Eltern, die noch nicht Ja gesagt haben. Meine Frau erinnert sich, dass ich dort mal anrufen wollte. Ich erinnere mich, dass sie das vorhatte. Nur Justin erinnert sich nicht mal mehr, wie verstört er schon einmal aus der gleichen Villa heimkam.
Da waren sie noch in der Grundschule. Die Gastgeber hatten den slowakischen Staatszirkus engagiert und Justin kannte die Regel nicht, nach der das Geburtstagskind jedes Spiel gewinnen muss. Und natürlich durfte auch nur eine auf dem weißen Tiger reiten. Damals konnten wir ihn noch damit trösten, dass solche Kinder anders keine Freunde fänden. Dass ihre Eltern Selbstbewusstsein kaufen – Westdeutsche eben. Wir hätten es gern pädagogisch korrekter ausgedrückt, aber sollten wir etwa lügen? Wie soll man Kindern auch erklären, dass Finn-Ole bei einer Angina wochenlang zu Hause bleiben und Zuckerkugeln lutschen darf, aber unsere Jungs nach einer ordentlichen Dosis Antibiotika wieder in die Schule müssen? Dass wir bei schlechten Noten weder Atteste noch Anwälte bemühen. Dass sie durch die Sozialisation ihrer Eltern von Haus aus benachteiligt sind, was kranken Ehrgeiz, falsche Bescheidenheit, Egoismus und Ungeduld betrifft …
»Was denn nun?«, fragt Justin. Meine Frau schüttelt ebenfalls tadelnd den Kopf. Dabei kennt sie die Reportagen über westdeutsche Flatrate-Teenies auch! Zu unseren Zeiten gab es höchstens mal einen Kanister Obstwein. Und so einfach ist das mit einer Abtreibung heute schließlich auch nicht mehr.
Sonst reden wir vor unseren Kindern selten von früher. Niemand klingt gern wie Opa, der sich nur noch an den Vollmond im Schützengraben erinnert. Wenn ihre West-Schulbücher Quatsch über die DDR verbreiten, korrigieren wir das und fertig. Als die Soft-Air-Diskussion aufkam, habe ich Kevin gezeigt, wie wir mit leeren Tic-Tac-Schachteln aus dem Intershop Erbsenpistolen bastelten. Wenn Finn-Ole oder die Tiger-Reiterin sinnlos teure Klamotten vorgeben, setzt es eine Predigt über die armen Kinder in Vietnam, die das nähen mussten, oder den Marken-Imperialismus allgemein. Aber sonst, wie gesagt, wollen wir sie mit dem alten Zeug nicht weiter belasten. Und
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