Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)
Erfahrung zum Beispiel, dass man nicht nur auf die Straße gehen kann, um etwas zu ändern, sondern hinterher sogar auf ihr leben kann. Die Gelassenheit, dass man nicht nur ein System abwickeln kann, sondern vielleicht auch zwei. Die Gewissheit vor allem, dass nichts für die Ewigkeit ist, selbst wenn es sich so anfühlt.
»How does it feel«, wenn man ein Arbeitsleben lang bei Quelle oder Opel gearbeitet hat und das Werk plötzlich schließt? Wenn ganze Regionen vor Armut zittern und Politiker an die Verantwortung der Unternehmen appellieren. Die Leute in Bischofferode können ein Lied davon singen.
Wie fühlt sich das an, wenn das heilige Wachstum nicht mehr wächst und der Markt nicht mehr wirtschaftet, schon gar nicht sozial? Wenn das rosa Papier zwischen den Fingern nicht die Financial Times ist, sondern eine Wartenummer im Arbeitsamt? Wie fühlt sich das an, wenn die Globalisierung an die Tür klopft? In Cottbus war sie schon lange.
»How does it feel«, wenn Aktien und Lebensversicherungen schmelzen und irgendwelche »Märkte« Altersvorsorgen fressen? Wie bitte? Was für Sorgen? Zumindest solche hatten die meisten Menschen in Demmin noch nie: »When you ain’t got nothing, you got nothing to lose.«
Wie fühlt sich das an, wenn eine Krise die nächste jagt, knapp gefolgt von »historischen Entscheidungen«, eine zwangsläufiger als die nächste und immer »ohne Alternativen«. Bei der Atomkraft. In Afghanistan. Beim Euro. Mitgegangen. Mitgefangen. Deutschland kann nicht ohne ... Europa muss ... Der Rettungsschirm wird … Und die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. »How does it feel«, wenn dann doch alles ganz anders kommt?
Wie fühlt sich das an, mit einer Regierung zwischen Hebel und Nebel, zwischen Banken und Pöbel, zwischen Libyen und Bösien – je nachdem, wie es ausgeht? Die heute Laufzeiten verlängert und morgen alle Atomkraftwerke abschaltet, aber deren oberster FDJ-Funktionärin zwischendurch auch mal rausrutscht, dass man Politik nicht danach ausrichten könne, »wie viele Menschen gerade auf der Straße sind.«
Wie fühlt sich das an, wenn ein Hochstapler erst Kriegsminister wird und dann Hals über Kopf nach Übersee desertiert? Der oberste Dachdecker der DDR stand für zu seine Schießbefehle wenigstens einmal fast vor Gericht, bevor er sich nach Chile absetzte. Seinen Doktortitel der Nihon-Universität in Tokio trug er zwar nicht vor sich her, aber dafür ehrenhalber bis zuletzt.
»How does it feel« beim Camping gegen Banken? Mit Luftballons und fast so vielen Teilnehmern, wie auch manchmal gegen Kinderschänder demonstrieren? Wie hört sich das an, wenn die Bundesregierung auf einmal »Verständnis für die Proteste« auf der Straße hat. Etwa so wie Erich Mielkes Liebeserklärung an »alle Menschen«? Oder einfach nur »abstrus«, wie die Plagiatsvorwürfe gegen Guttenbergs »mühevollste Kleinarbeit«?
Es sind nur Fragen, wie gesagt – keine Häme. Hier lacht niemand, wenn plötzlich nur noch der zügellose »Finanz«-Kapitalismus Schuld ist, als könne man einen schwarzen Rappen leichter bändigen als einen weißen Schimmel. Macht Euch deshalb keine Gedanken! Mal eine Währungsreform, ein Systemwechsel, ein paar Jahre Hartz IV – alles halb so schlimm. In diesem Sinne interpretieren wir demnächst mal: Don’t Think Twice, It’s All Right . Zur Not vielleicht auch: It’s All Over Now, Baby Blue . Bis dahin lasst Euch von Dylan hinter die Ohren schreiben: »Now you don’t talk so loud. Now you don’t seem so proud ...« Ich übersetze das einfach mal so: Schnauze, Wessi!
Als nun der Hase in vollem Lauf ankam,
rief ihm die Igelfrau entgegen:
«Ich bin schon hier!”
Beim vierundsiebzigsten Versuch
brach der Hase mitten auf dem Acker tot zusammen.
Gebrüder Grimm, Der Hase und der Igel, 1843
Wer zu spät kommt ...
Ob bei Kinderkrippen, im Schnapsverbrauch oder mit dem eigenen Tod – der Westen hinkt immer hinterher. Wie sollen uns solche Penner in Zukunft durchfüttern? Ein Kopfschütteln.
Manchmal jagt eine dramatische Meldung aus Wiesbaden die nächste, und dabei ist das – selbst für westdeutsche Verhältnisse – keine besonders aufregende Stadt. Schuld sind die Erbsenzähler vom Statistischen Bundesamt. Vielleicht auch an der Langeweile, sicher aber nicht am Babyboom, den sie gerade verkündet haben: Danach lag die deutsche Gebärleistung im vergangenen Jahr so hoch wie seit 20 Jahren nicht mehr. Im Gegensatz zu
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