Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)
westdeutschen Frauen mit 1,39 Kindern stieg die Zahl im Osten sogar auf 1,46 Kinder pro Frau.
Dies nur mit mehr Spaß, Know-how und Effizienz in ostdeutschen Schlafzimmern (siehe Seite 46) zu erklären, solche Binsenweisheiten überhaupt zu erwähnen – oder durch einen zusätzlich eingeschobenen Halbsatz noch zu betonen –, wäre zu einfach, ja beinahe platt. Vermutlich hängt es auch damit zusammen, dass Westdeutsche zwar öfter heiraten, sich aber viel seltener trauen, auch mal in der Mittagspause eine Nummer mit der Kollegin zu schieben beziehungsweise überhaupt Hemmungen haben, ohne Trauschein zu vögeln. Denn wie das Statistische Bundesamt nur mit wenigen Tagen Abstand meldete, kommen Kinder im Osten auch mehr als doppelt so häufig unehelich zur Welt wie im Westen. Und da hat der Töpfchen-Professor Pfeiffer (siehe Seite 144) vom Kriminologischen Forschungsinstitut Hannover noch nicht mal alle Tiefkühltruhen mitgezählt. Sechs von zehn Neugeborenen im Osten sind demnach das, was man früher einen Bastard nannte. In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt sogar 64 Prozent. Respekt! Ich kann mich an keine Statistik erinnern, in der diese beiden dünn besiedelten Bundesländer schon einmal vorn lagen. Außer vielleicht beim Schnapsverbrauch pro Kopf oder den wenigsten rechtsradikalen Straftaten pro Quadratmeter.
Es ist faszinierend und auch ein wenig traurig: Westdeutschland schafft sich ab. Fast scheint es, als wollte uns das Bundesamt mit solchen Meldungen von der größten Datenerfassung seit dem Sturm auf die Stasi-Zentralen 1989 ablenken, die derweil in aller Stille durchgezogen wird. Weil auch nach der Volkszählung dramatische Verschiebungen amtlich werden – so sollen etwa viel mehr Menschen aus dem Osten abgewandert sein, als sonst oft beklagt –, mache ich mir außerdem Sorgen, wen man in Zukunft noch als West-Arsch beschimpfen soll, wenn es dort kaum noch welche gibt. Und wer soll den ostdeutschen Rest durchfüttern? Etwa der Ex-Chemnitzer, der in München Müll fährt, oder die Erfurterin, die in Paderborn westfälische Nazi-Witwen füttert? Bei deren Löhnen kommt doch hier kaum noch was an! Da können wir auch gleich die Griechen nach einem Solidaritätszuschlag fragen.
Wie der Westen unsere gemeinsame Zukunft verspielt, erinnert fast an das berühmteste Zitat von Michail Gorbatschow, das in Wahrheit nie so gefallen ist. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«, soll er angeblich gesagt haben, als er die DDR zu ihrem 40. und letzten Geburtstag besuchte. Wörtlich sagte Gorbatschow aber am 5.10.1989 auf dem Flughafen Schönefeld zu Honecker nur: »Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.«
Möglicherweise hat das ein West-Reporter etwas knackiger zurechtgefummelt oder ein heimlicher Dissident falsch übersetzt – Honecker machte jedenfalls noch ein paar Tage weiter wie bisher. Wenn ich aber lese, dass im Westen selbst 22 Jahre später nur jedes sechste Kleinkind einen Krippenplatz findet, nagen doch Zweifel am gesellschaftlichen Fortschritt der Hausfrauen-Diktatur. Selbst wenn sie wollten, tragen die Mütter dieser Kinder ohne eigenes Einkommen schließlich nichts zum Aufbau Ost bei. Dabei brauchen wir hier auch immer noch für jedes zweite Kind einen Krippenplatz. Und wie soll das erst werden, wenn im August 2013 der Rechtsanspruch darauf wirksam wird?
Wie soll der Westen das alles aufholen? Erst ein Jahr weniger bis zum Abitur, das straffe Bachelor-Studium, Pisa und so weiter. Eben erst hat Nordrhein-Westfalen nach jahrelangem Streit um die drei klassischen westdeutschen Schulformen eine vierte eingeführt. Die »Sekundarschule« wird dort wie eine Neuerfindung gefeiert, während Eltern von Kindern, die jetzt auch endlich nach zwölf Jahren das Abitur machen dürfen, wieder jammern …
Nach wie vor kommt es in Westdeutschland zu lokalen Epidemien der Masern, weil sich asoziale Impfgegner auf die anderen verlassen. Sie glauben an die Heilkraft von Kügelchen aus Milchzucker oder spielen bei Hausgeburten Russisches Roulette: Das ist Mittelalter dort! Aber feixen, weil Ostdeutschland schon 1988 beim Pro-Kopf-Verbrauch von Schnaps unangefochten Weltspitze war. Mit 16,1 Litern im Jahr, wie der Cottbuser Ethnologe Thomas Kochan für sein Buch Blauer Würger herausfand, noch vor Polen. Westdeutschland spielte nie in dieser Liga, und so setzt sich das überall fort: Ob wir über den ersten Deutschen im All reden oder die Abschaffung der
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