Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)
weltpolitische noch allein wirtschaftliche Bedürfnisse des Westens eine Rolle, ja nicht einmal wahltaktische der angeschlagenen Regierung Kohl, wie Kritiker im Zusammenhang mit der schnellen Währungsunion in den letzten 22 Jahren oft vermuteten. Der 3. Oktober, so belegen es bis heute verschollene Protokolle, wurde nur deshalb Nationalfeiertag, weil die wichtigsten Politiker keinen anderen Termin mehr frei hatten.
Die seitdem gerade an diesem Tag oft beschworene innere Einheit war schon in der geheimen Termin-Findungs-Kommission nicht herstellbar. Tagelang stritten sie über ein passendes Datum. Es sollte die eigenen Befreiungskräfte der Ostdeutschen nicht überbewerten wie etwa der 9. Oktober, an dem ein Jahr zuvor 70.000 Leipziger um ihre Innenstadt gezogen waren, erstmals unbehelligt, aber bei klar angedrohter Lebensgefahr. Zudem brauchte man ein Datum, an dem Deutsche in der Vergangenheit nicht allzu viel Kristall zerschlagen hatten, weshalb der 9. November von vornherein ausschied. Neben allem historischen Ballast hatte am Tag des Mauerfalls ja auch keiner etwas Besonderes geleistet. Eine missverständliche Presserklärung wäre zwar auch eine sympathische Gründungsurkunde für ein wirklich neues, gemeinsames Land gewesen, aber genau das wollte ja keiner.
Nur ein paar unverbesserliche Bürgerrechtler ritten immer noch auf einer neuen Verfassung herum, wie es das Grundgesetz eigentlich vorsah. Doch dieser Passus war schneller geändert, als für Secondhand-Demokraten überhaupt durchschaubar. Als Alibi durften sie in einer Bundestags-Kommission noch ein paar Jahre darüber reden. Auch ihre Bedenken zum 3. Oktober waren schnell vom Tisch gewischt. Dass es der zweite Todestag von Franz Josef Strauß war, der die menschenverachtende Diktatur noch ein paar Jahre vorher mit Milliardenkrediten stabilisiert hatte, störte die Befürworter des Datums nicht. Selbst die Einweihung des Ost-Berliner Fernsehturms am 3. Oktober 1969 schreckte niemanden ab. Es musste – dagegen konnten schließlich auch die aufrechten Bürgerrechtler nichts mehr einwenden – unbedingt der Geburtstag von Gerald Asamoah sein.
Neben den Terminproblemen von Kohl und Kollegen war das der kleinste gemeinsame Nenner. Sogar England und Frankreich konnte man diesen scheinbar lapidaren Kompromiss als Sicherheit dafür unterjubeln, dass sich niemand mehr vor gesamtdeutschen Gefühlen fürchten muss. Der knapp 12-jährige Junge aus Ghana war damals gerade frisch nach Deutschland gekommen und spielte beim Ballspielverein Werder Hannover. Es sei nicht abzusehen, so notierte der Protokollführer, »dass A. einmal in der deutschen FNM o. Ä. spielen wird«. Die Abkürzungen »o. Ä.« und »FNM« werden von Historikern heute unterschiedlich interpretiert. Für manche ist »Fußballnationalmannschaft oder Ähnliches« allerdings ein Beleg, dass die Kommission genau wusste, was sie tat. Manche vergleichen den Tag der Deutschen Einheit deshalb sogar mit der moralischen Wiederaufrüstung nach dem Ersten Weltkrieg. Aber letztlich kommt es darauf auch nicht an, weil die Protokolle – ihre einzige Quelle – wie gesagt verschollen sind.
Die Verschwörer von damals möchten aus guten Gründen nicht darüber sprechen. Der Einheitskanzler lehnt Interviews, die mit Geld und Ehrenwörtern zu tun haben, traditionell ab. Die Verhandlungsführer auf ostdeutscher Seite leiden unter Alkoholsucht oder möchten erst die eben verlängerte Stasi-Überprüfung abwarten. Einer deutet immerhin an, dass auch eine neue Nationalhymne für lange Diskussionen sorgte. Ein Vorschlag mit dem Titel »Wir sind das Volk« wurde aus »Zeitgründen« abgebügelt. Angeblich hätte das vor allem Westdeutsche überfordert, die sich gerade erst an die dritte Strophe der alten Nazi-Hymne gewöhnt hatten. Peinliche Zwischenfälle wie kürzlich bei der Ruder-WM, als die ungarischen Gastgeber eine ältere Platte auflegten, nahm man dafür gern in Kauf. Ebenso die Zurückhaltung von Sportlern wie »A. o. Ä.«, die vorsichtshalber nicht mal die Lippen bewegen.
Als Asamoah vor zehn Jahren eingebürgert wurde, die ersten Tore für die »FNM« schoss und schließlich sogar von ahnungslosen Propaganda-Funktionären für die Kampagne »Du bist Deutschland« eingespannt wurde, drohte die ganze Sache aufzufliegen. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder wollte 2004 die Notbremse ziehen und – unter der Legende, Haushaltslöcher zu stopfen – den Tag der Deutschen Einheit künftig nur
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