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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Herz. Sie prügeln sich, ohne daß sich einer wehtut, obwohl es so aussieht. Das wäre ein abwechslungsreicher Beruf. Eike kommt nicht mehr vom Kinderkarussell runter, er gibt sein ganzes Taschengeld dafür aus, Runde um Runde zu drehen. Die Leiter erzählen sich noch lange davon,daß sie das nicht gedacht hätten, daß ausgerechnet Eike mit etwas so Einfachem so glücklich zu machen gewesen wäre. Das heiße ja wohl, daß er aus besonders schwierigen Verhältnissen stamme.
    Eigenartigerweise scheinen an allen Attraktionen ehemalige Häftlinge zu arbeiten, tätowierte Männer in Röhrenjeans und mit langen, fettigen Haaren. Die große Schiffschaukel. «Keine Traute?» Die Füße hat der furchterregende Mann mir gar nicht festgeschnallt, ist das nicht gefährlich? Wenn ich beim Looping runterfalle? Aber ich bekomme gar keinen Schwung, ich bin viel zu leicht. Bevor ich verstanden habe, worum es geht, wird schon wieder gebremst, auch das verstehe ich nicht, und ich wippe gegen das Schleifen an, bis ich am Arm gepackt und rausgezerrt werde.
    Eine plötzliche Gier auf Kartoffelpuffer mit Apfelmus erfaßt mich, ich hole mir mehrere Portionen. In der Schlange steht ein dicker, blonder Mann mit schwarzer Brille, die gleiche habe ich als Kind gehabt. Ich kann gar nicht weggucken, weil ich mir sicher bin, daß er genau so aussieht, wie ich später einmal aussehen werde, und daß er vielleicht sogar ich ist.
    Ich finde es schade, daß ich keine Brille mehr brauche. Bei «Die 12 Geschworenen» erkannte Henry Fonda daran, daß sich jemand immer wieder den Nasenrücken rieb, daß er eigentlich eine Brille trug. Genauso mache ich es auch. Als sei ich müde vom Nachdenken und gönnte meinen Augen eine kurze Ruhepause, bevor es weitergeht mit den komplizierten Berechnungen, an denen ich arbeite.
    Ich liebäugle mit einem stabilen Ledertäschchen, das man auf den Gürtel fädeln kann. Aber dann wäre mein ganzes Ferienlagergeld mit einem Mal weg. Wenigstens ein Schweinsleder-Etui mit Reißverschluß für die Spielkarten? Ich möchte unbedingt etwas kaufen, es ist kaum auszuhalten. Im Dorfkonsum entdecke ich einen Thermoskanneneinsatz aus versilbertem Glas. Unsere Thermoskanne gehört zu den Gegenständen, die unter dem besonderen Schutz meines Vaters stehen, weil es keine Ersatzeinsätze zu kaufen gibt. So etwas ist so wertvoll wie Nähmaschinennadeln, Bohrmaschinenbohrer oder die konkaven Glasscheiben, auf denen sich die Achse der Weihnachtsbaumpyramide dreht. Im Werkzeugschrank hat er ein Tütchen davon auf Vorrat. Ich kaufe den Thermoskanneneinsatz, den gibt es vielleicht nur hier.
    Im Kinosaal des Kulturhauses kommt «Der geheimnisvolle Buddha». Wenn man Karate könnte oder Kung-Fu! Das soll aber verboten sein bei uns, weil es gefährlich wäre, wenn die Bevölkerung sich ohne Waffen wehren könnte. «Nakayamas Karate perfekt» kann man deshalb in der Stadtbibliothek nur mit einer Sondergenehmigung ausleihen. Es würde ja auch schon reichen, so fest mit der Hand zudrücken zu können, daß der andere in die Knie geht. Man bräuchte Hornhaut an den Knöcheln, und man müßte so schnell sein, daß man mit dem Luftzug, den die Fäuste beim Schlagen machen, eine Kerze auslöschen kann. Im Foyer wundern wir uns, weil Holger gestützt werden muß, er ist ganz grün im Gesicht. Er war aus dem Saal gebracht worden, weil er kein Blut sehen konnte.
    Im Lager springen wir mit Karate-Tritten gegen die Stämme der Bäume, es geht darum, für einen Moment waagerechtin der Luft zu stehen. Nach jeder Unternehmung muß einer etwas ins Gruppenbuch schreiben und dazu ein Bild malen. «Es war sehr schön.» «Es hat allen Kindern sehr gefallen.» Ein Satz West-Filzstifte wird dazu rumgereicht, sie haben eine dünne und eine dicke Spitze, und satte, leuchtende Farben bedecken das Papier. Wolfgang, der die meiste Zeit im Bett liegt und auf seine komische Art Digedags liest, kann am besten malen, bei ihm sieht es aus «wie in echt». Sogar die Gesichter erkennt man, vor allem ihn selbst. «Kannst du schau malen», sagt jemand. Daraufhin reißt er die Seite raus und zerknüllt sie.
    «Maijämmi Weiß!» rufe ich und stürme mit vorgehaltener, unsichtbarer Pistole in den Bungalow. Holger und Birgit sehen mich an, sie sitzen in seinem Bett, unter der Decke, wie ein Ehepaar, nur mitten am Tag. Ich tue so, als sei das für mich kein ungewohntes Bild.
    Weil die Holzplatte heute besetzt ist, spiele ich mit Wolfgang an einer der Steinplatten, den gleichen, wie

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