Schneckenmühle
wieso?»
«Weil die Kapitalisten am meisten am Krieg verdienen.»
«Die Sowjetunion ist aber auch in Afghanistan einmarschiert, und außerdem haben sie dieses koreanische Passagierflugzeug abgeschossen.»
Rita kommt an mein Bett. Wo ich das denn her hätte? Na aus dem Fernsehen. Sie haben das Flugzeug abgeschossen, weil sie es angeblich für ein Spionageflugzeug gehalten haben. Man kann doch nicht so viele Menschen umbringen, wenn man sich nicht sicher ist? Die anderen stimmen mir nicht zu. Das sei eine Provokation gewesen, sagt Holger. Natürlich mußte das Passagierflugzeug abgeschossen werden, es hätte ja eine Atombombe an Bord sein können. Sie hätten eben nicht dort langfliegen dürfen. Aber das war doch ein Gerätefehler? Das ist doch klar,daß sie das jetzt erzählen, sagt Marko. So dumm kann man doch nicht sein, das zu glauben. Rita sieht mich besorgt an, als hätte ich Fieber. Ich bleibe aber bei meiner Ansicht. Man darf doch niemanden umbringen. Die Sowjetunion hat noch nie einen Fehler zugegeben. «Darauf warten sie ja auch nur.» Es habe noch nie so einen friedliebenden Staat gegeben, nicht umsonst habe Lenin als erstes Dekret überhaupt das «
Dekret o mire
» erlassen. Ich weiß schon, daß ich nicht so offen reden sollte, aber daß ich mit meiner Ansicht so allein dastehe, überrascht mich. «Du bist ja total verhetzt», sagt Marko. Ich bin ganz aufgeregt von der Diskussion. Es ist wie mit den Beatles oder mit Gott, ich weiß ja, daß ich recht habe. Ich wäre wirklich gerne dabeigewesen, als Lenin im Himmel das erste Mal Gott begegnet ist.
Im Bett lese ich noch einmal den Brief von meinem Bruder.
Lieber Jens,
wie geht es Dir? Welchen Bungalow habt ihr diesmal? Hoffentlich seid ihr nicht in „Goliath“, da ist es immer so dunkel. Hast Du schon den streunenden Hund gesehen nachts? Der ist das Kind von einer Frau, die es mit einem Dobermann getrieben hat. Bei uns regnet es jeden Tag, wir haben nichts mehr zu essen, außer Milchpulversuppe mit Zückli. In den Läden gibt es nur vietnamesische Krabbenchips und eingelegte Birnen, die aussehen wie Fischpräparate. Ich habe mir immerhin eine Aluminiumflasche gekauft für unser Benzin. Außerdem gab es Kakerlaken aus Gummi zum Angeln, ich habe Dir eine in den Brief gelegt. Du hast es wirklich gut, daß Du noch nach Schneckenmühle kannst, genieß die Zeit (”invollen Zügen“ haha …) Lebt Opa Schulze noch? Kennst Du sein Geheimnis schon? Wenn Du vor mir zu Hause bist, dann Finger weg von meinen Briefmarken. Wenn Du an meine Leiterplatten gehst, müßte ich Dir die Hände abhacken. Hast Du schon eine Freundin? Oder mußt du bei der langsamen Runde noch alleine tanzen? Du mußt die Mädchen fragen, ob sie Französin sind, dann verlieben sie sich in Dich. Aber Vorsicht, man kann den Zauber nicht so leicht rückgängig machen. Ich muß jetzt aufhören, wir wandern gleich wieder weiter. Die anderen machen fünfmal in der Stunde Zigarettenpause und rauchen die Zigaretten, die eigentlich zum Tauschen waren, weil ihre naß geworden sind. Ein Pferd von einem Hirten hat unser Klopapier gefressen. Der Hirte hat den Film aus meiner Kamera gezogen, weil er das Foto sehen wollte, das ich von ihm gemacht habe. Wir haben im Zug zwei Sachsen getroffen, von der Bergakademie in Freiberg, die konnten auf der Mundharmonika Blues spielen. Die haben leere Rucksäcke gehabt, weil sie auf dem Rückweg Bergkristalle schmuggeln wollen. Auf ihre Fahrkarten schreiben sie einfach mit Kugelschreiber immer neue Städte rauf, und keiner merkt was. Die Berge sind wie in ”Tim in Tibet “, nur im Moment ohne Schnee. Man trifft hier überall Sachsen. In Budapest hat mich einer angesprochen, weil er wissen wollte, wo ein bestimmter Campingplatz ist, wo im Moment alle zelten. Glaubst du, daß es den Yeti gibt? Ich hoffe, er wird nie gefunden, sonst geht es ihm wie King Kong. Ich weiß noch, wie du geweint hast, als King Kong gestorben ist. Die Kakerlake kannst du Deiner Freundin ins Essen tun, wenn sie zu aufdringlich wird.
Viele Grüße, Dein Jürgen
Als das Lager schläft, klettern wir durchs Fenster und steigen über einen Maschendrahtzaun, hinter dem man am Hang entlangschleichen kann, im Schutz des Waldsaums. So kommt man unbemerkt zum Mädchenbungalow. Drinnen sind wir unschlüssig, es war so einfach herzukommen, aber was wollen wir jetzt hier? Aus dem Dunkeln meldet sich eine Stimme: «Könnt ihr mal die Klappe halten?» Das kam aus Birgits Bett, offenbar liegt Holger dort
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