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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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abgeschnitten und in den Mund gesteckt. Dann haben sie ihn geknebelt, bis die abgeschnittene Zunge verfault ist.»
    «Dann kann man kein Softeis mehr essen.»
    «Wieso, man kann doch abbeißen.»
    «Aber die Zunge ist dafür da, daß das Eis schon im Mund erwärmt wird. Die Verdauung beginnt nämlich im Mund.»
    «Daß man nicht mehr reden kann, ist doch viel schlimmer.»
    «So wie Lassie.»
    «Wenn sie uns mit Hunden verfolgen, müssen wir durch einen Fluß gehen.»
    «Oder einer opfert sich und lenkt sie mit seinem Blut ab.»
    Es fängt an zu nieseln. Sollen wir unter den Tropfen durchrennen, nach Dennis’ Methode? Die Bäume werfen plötzlich einen Schatten, der sich schnell bewegt. Hinter der Kurve nähert sich ein Auto, es könnte aber auch eine optische Täuschung sein, wenn es in Wirklichkeit zwei nebeneinander fahrende Motorräder wären. Peggy hält die Hand raus. Ein grüner LKW fährt ganz langsam an uns vorbei, hinten steht auf einem gelben Schild:Zum Glück fährt er weiter. Nach 100 Metern hält der LKW aber doch. Ist das wegen uns? Wir wissen nicht, ob wir hinrennen oder wegrennen sollen.
    Ein Mann mit kahlgeschorenem Kopf und ein zweiter mit kurzen, schwarzen Haaren, sie stehen vor dem LKW und begutachten den Motor. Als sie uns sehen, werden wir mit einer Taschenlampe angestrahlt. Wir bleiben vorsichtshalber stehen, und ich nehme die Hände hoch. Sie rufen etwas, wir wissen nicht, ob wir weitergehen sollen. Der mit der Taschenlampe kommt auf uns zu, ich bereue, daß ich mit Peggy mitgegangen bin, daß ich nach «Schneckenmühle» gefahren bin, daß ich am Leben bin. Oma Rakete hatte nach dem Krieg im Nachttisch einen Schlagring, wenn besoffene Russen kamen. Einmal hat ihnen einer die Scheibe eingeschlagen und durchgegriffen, um die Türklinke zu drücken. Mein Onkel ist zur benachbarten Kasernegerannt und hat einen Offizier geholt. Der hat den Soldaten mit einem Faustschlag zu Boden gestreckt.
    Der Mann nimmt die Taschenlampe runter. Auf seinen Schulterstücken steht auf russisch «CA», das hatte mich immer gewundert, daß sie das nicht selber komisch finden, denn das hieß doch «SA». Er scheint Offizier zu sein, und der andere Soldat.
    «Kaputt?» frage ich.
    «Nix kaputt» sagt der Offizier.
    «Liebstadt?» sage ich.
    «Ich liebe dich!» lacht der Offizier. Hoffentlich ist er nicht betrunken.
    Der Soldat zieht ein Kabel aus einer Steckverbindung. Er beißt ins Kabel, entfernt mit den Zähnen die Isolierung und spuckt sie weg. Bei einem anderen Kabel macht er das gleiche. Er verknotet die Kabel an den freigelegten Stellen. Man kann auf die Kabel auch leere Tintenpatronen fädeln, um die Kontakte vor Korrosion zu schützen. Immer merke ich mir solche Sachen, die mir nichts nützen.
    Der Offizier zeigt auf sich und sagt: «Sergej Iwanowitsch.» Er zeigt auf den Soldaten am Lenkrad: «Iwan Sergejewitsch.»
    «Sdrastwujtje», sage ich, «Menja sawut Jens. Eto Peggy. Druschba. Wuj na Liebstadt?»
    «Liebstadt? Da, da, paschli.»
    Auf der Bank im Fahrerhäuschen ist Platz für uns beide, den Soldaten und den Offizier. Auf dem Armaturenbrett steht ein Holzrahmen mit Rechenperlen. Der Soldat versucht zu starten, der Offizier erklärt ihm verschiedene Knöpfe und Hebel, die in einer bestimmten Reihenfolge zu drücken und zu ziehen sind. Ruckartig setzt sich der LKW in Gang, offenbar lernt der Soldat gerade fahren. Die beiden sehen gar nicht aus wie Russen, eher wie die mongolischenRadsportler, die bei der Friedensfahrt immer die letzten sechs Plätze belegen. Auf der Armbanduhr vom Offizier steht
    Was haben wir in Russisch gelernt? Ich versuche, mich an Wörter oder Sätze zu erinnern. «Druschba narodow», Völkerfreundschaft, und «Gonka Wooruschenii», Wettrüsten. Ob sie sich mit einer Hand in der Hosentasche aus Machorka eine Papirossi drehen können? Auf dem Armaturenbrett stehtdas heißt doch «Butter»? Warum steht da Butter? Ich zeige auf die Schrift und sage: «Eto Maslo?» «Maslo», lacht der Offizier, «Maladjetz!»
    Unglaublich, ich habe ein russisches Wort gesagt, und er hat es verstanden. Das funktioniert ja wirklich! Ein ganz eigenartiges Gefühl, daß man im Kopf des anderen etwas auslöst, indem man ein Wort ausspricht, das sich bereits dort befindet und das man eigentlich nur gelernt hat. Einen Satz könnte ich noch: «Ja sabiraju nakleiki ot spitschetschnijch karabok», «Ich sammle Zündholzetiketten.» Vielleicht kann ich die Wörter irgendwie umstellen und etwas Brauchbareres

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