Schneckenmühle
Höflichkeit. Aber es ist eine trockene Kälte, deshalb kann man dort auch bei Frost Eis essen. Das sagt jedenfalls Irina, die ihre ersten Lebensjahre in Moskau verbracht hat. Einmal hat sie mich in der Klasse ausgelacht, weil ich dachte, daß die Metro alle russischen Städte verbindet.
28 «Ich wußte gar nicht, daß du so gut Russisch kannst», sage ich zu Peggy.
«Ich find’ die Buchstaben schön, am meisten dasdas sieht wie ein Käfer aus.»
Die Telefonzelle am Platz der Republik stinkt nach Urin. Man muß die Tür mit dem Fuß aufhalten, sonst bekommt man keine Luft.
«Hoffentlich ist es nicht kaputt», sagt Peggy.
Ich nehme den schweren, schwarzen Hörer ab, das Tuten ist zu hören, «duduut … duduut … duduut …», das Morsezeichen für den Buchstaben «A».
«Hast du 20 Pfennig?» frage ich.
«Bis Dresden ist das bestimmt teurer.»
«Dann 50. Oder lieber gleich eine Mark. Man kann das auch irgendwie an eine Strippe binden und umsonst telefonieren, aber dazu müßte man ein Loch reinbohren.»
Sie küßt ihr Markstück, läßt es in den Schlitz fallen und wählt. Eine Frauenstimme ist zu hören: «Kein Anschlußunter dieser Nummer … Kein Anschluß unter dieser Nummer …» Sie legt auf, das Geld kommt nicht wieder raus.
«Vielleicht hättest du sagen müssen: ‹Vermittlung›?»
«Hast du noch Geld?»
«Ich hab auch nur eine Mark. Vielleicht geht das mit einem Knopf?»
Jemand klopft an die Scheibe der Zelle, wir sind starr vor Schreck.
«Ihr wollt hier wohl was abmontieren?» sagt Opa Schulze.
«Nein, wir müssen telefonieren.»
«Habt ihr Nachtwanderung?»
«Nein, wir müssen nur telefonieren. Es ist sehr dringend. Aber die Nummer geht irgendwie nicht.»
Wir folgen ihm durch den Ort. Ich bin froh, daß er die Sense nicht dabeihat. Fast nirgends brennt mehr Licht. Die Rolläden sind unten, als müßten sich alle verstecken. Ich kenne den Ort von unseren Besuchen mit der Gruppe, aber es fühlt sich seltsam an, auf eigene Faust hier zu sein, die Stellen, wo wir zusammen standen, kommen mir so verlassen vor. Nur aus einem Haus dringen Geräusche, das ist der «Grüne Baum», wo wir sonst immer Eis kaufen. Vor der Kneipe riecht es nach Erbrochenem. Wir folgen Opa Schulze in den Schankraum. Die Tür geht wirklich nach außen auf, wie bei allen Kneipen, damit man auch betrunken noch rauskommt. Bis auf die Frau hinter dem Tresen sind nur Männer im Raum. Die Luft ist verqualmt, es riecht säuerlich nach Bier, wie früher im Friedrichshain, wenn wir mit der Kindergartengruppe an einer Eckkneipe vorbeigegangen sind. Opa Schulze führt uns zum Stammtisch. «Setzt euch erst mal.»
Die alten Männer spielen Skat. Sie haben kurze Zigarrenstummelzwischen den Lippen. Ist das die berühmte «Puck», die so billig sein soll und so stinkt? Beim Bedienen knallen sie die Karten mit der Faust auf den Tisch, als müßten sie Nägel einschlagen. Ich weiß nicht, ob sie unterm Tisch noch Beine haben. Seltsamerweise trinken alle im Raum aus Pappbechern.
«Was sind denn das für Vögel?» fragt einer.
«Aus ‹Schneckenmühle›», sagt Opa Schulze.
«Berliner?»
«Nur ich. Sie ist aus Dresden.»
«Steckst ’n Finger in’ Arsch und Dresd’n.»
«Freßt uns hier die Eierschecken weg?»
«Ein halbes Stück Butter hatte ich, hart gefroren», sagt der alte Mann neben mir. Er hat keine Zähne mehr und einen Gummiring auf der Pfeife, damit sie nicht aus dem Mund fällt. Die Zähne der anderen sind länglich und gelb, mit Zwischenräumen. Ihre Haut sieht aus, als hätten sie ihr Leben im Regen stehend verbracht, bei starkem Wind. Vielleicht sind es Seeleute? Das würde man dann am Gang sehen, weil sie sich daran gewöhnt hätten, die Schwankungen des Schiffs auszugleichen, so daß sie das Gleichgewicht verlieren, wenn sie an Land sind. Ich halte nach einem Telefon Ausschau. Vielleicht sollten wir schnell wegrennen? Aber mit Opa Schulze kann eigentlich nichts passieren. Ich bereue, daß ich nicht auch behauptet habe, aus Dresden zu kommen, und daß ich mir nicht von Peggy Sächsisch habe beibringen lassen. Man muß dazu irgendwie den Unterkiefer runterhängen lassen und ihn gleichzeitig ein Stück vorschieben.
Ein Mann betritt den Raum, sein rotes Gesicht ist aufgedunsen, als hätte er eine Nacht im Wald unter freiem Himmel geschlafen. Es ist der Mann, der vorhin mit seinem Wartburg am Straßenrand stand. Er geht zur Wirtin undhält ihr die Hände hin, in denen er einen Haufen Kleingeld hat: «Roswitha,
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