Schneckenmühle
daraus basteln?
Plötzlich singt Peggy:
«Tschunga Tschanga, sinij neboswod, Tschunga Tschanga, ljeto kruglijgod …»
Die beiden Russen seufzen und halten sich die Hand ans Herz. Peggy soll weitersingen. Der Offizier hat Tränen in den Augen. Ich habe Angst, daß sie vergessen haben könnten, wo wir aussteigen wollen. Aber so langsam, wie wir fahren, könnten wir auch rausspringen und wegrennen.
«Jens? Dawai!» Der Soldat zeigt auf das Lenkrad.
«Ich kann nicht fahren.»
«Nitschewo. Dawai!»
Ich soll das Lenkrad halten. Der Soldat streckt die Arme in die Luft und reckt sich wohlig. Er hält sich die flachenHände an die Wange und legt den Kopf schräg, um zu zeigen, wie müde er ist. Ich soll auch noch den Fuß aufs Gaspedal drücken. Ich kann nicht glauben, daß ich den LKW lenke, ich bin bisher nur zwei- bis dreimal Autoscooter gefahren, aber da sprang immer gleich ein Großer mit in den Scooter und riß das Lenkrad an sich. Ich fahre zur Sicherheit so, daß die Räder die weiße, gestrichelte Linie auffressen wie Pacman eine Reihe Punkte. Meine Hände schwitzen. So etwas hat bestimmt noch keiner erlebt, den ich kenne. Ich muß aufpassen, daß ich bei einem Aufprall nicht von der Lenksäule durchbohrt werde.
Ich weiß nicht, ob es noch Scherz ist, aber mir scheint, daß die beiden jetzt wirklich schlafen. Vielleicht sollte ich hupen, aber wo ist die Hupe? Mein Vater hat noch nie gehupt, obwohl wir es uns so sehr wünschen, das sei aber nur im absoluten Notfall erlaubt. Muß man aufs Lenkrad hauen? Oder einen der Hebel drücken? Ich kann in der Dunkelheit nirgends ein Trompetensymbol entdecken. Ich mache das Geräusch einer Hupe nach, wie von dem alten Auto in «Die Waltons». Die beiden wachen davon aber nicht auf. Vielleicht heißt das aber auch, daß sie sich nur schlafend stellen. Woran erkennen die Leiter immer den Unterschied? In dem einen Gedicht von Bertolt Brecht sagt der Arbeiter zum toten Lenin: «Iljitsch, die Ausbeuter kommen», um sich zu vergewissern, daß Iljitsch wirklich tot ist. Ich sehe flehend zu Peggy, was soll ich machen? Irgendwann sind wir im Ort, und ich weiß nicht, wie man sich an Kreuzungen verhält. Haben russische LKWs nicht immer Vorfahrt? Ein Kollege meiner Eltern hat an einer Kreuzung im Wald eine Panzerkolonne abgewartet, dann ist er mit seinem Trabi auf die Straße gebogen und von einem Nachzügler überrollt worden. Peggy holt ihr Russisch Brot aus der Tasche und öffnet die Packung. Sie hältdem Offizier ein «B» vor die Nase. Ohne die Augen aufzuschlagen, schnappt er mit den Zähnen danach.
Das Anhalten scheint das schwerste zu sein. Dem Soldaten werden wieder Knöpfe und Hebel erklärt, und der LKW kommt nach 100 Metern zum Stehen, diesmal genau neben einem Wartburg, an einer Waldeinfahrt. Der Offizier und der Soldat steigen aus, wir ducken uns. Ein Mann mit fettiger Dauerwelle, die bis über die Schultern reicht, der Pony ist aber über den Augenbrauen akkurat gerade geschnitten, steht neben dem Wartburg. Er gibt dem Offizier die Hand. Ich versuche, im Rückspiegel zu sehen, was sie machen, aber es ist zu dunkel, um es genau zu erkennen. Der Soldat schraubt etwas am LKW ab, er steckt einen Schlauch in ein Loch und saugt daran. Trinkt er etwa Benzin? Ich dachte, das war nur Quatsch? Das Schlauchende wird in den Tank vom Wartburg gesteckt. Der Soldat sammelt Steine am Wegrand ein. Das Schlauchende wird nacheinander in mehrere Benzinkanister gesteckt. Schließlich verstaut der Soldat den Schlauch im Kofferraum, und jetzt hören wir dumpfe Schläge, klonk … klonk … klonk, die Steine fallen in den Tank.
«Ist wieder was kaputt?» fragt Peggy.
«Ich weiß nicht.»
Sergej Iwanowitsch und der Mann gehen zum Kofferraum des Wartburgs. Sie holen einen schweren Sack heraus, in dem sich etwas bewegt. Gemeinsam schleppen sie den Sack hinter den LKW, und dann hören wir einen dumpfen Aufprall und lautes Quieken, das erst wieder vom Motor übertönt wird.
Als wir in Liebstadt halten, reicht mir Sergej Iwanowitsch eine Büchse Fisch und eine graue Schachtel, ich soll mireine Zigarette rausnehmen. Sie hat ein Pappröhrchen als Filter. Ob es gesünder ist, daß der Tabak dadurch einen Zentimeter Abstand von den Lippen hat? Vielleicht ist das auch, weil es in der Sowjetunion so kalt ist? Im Winter kann es dort passieren, daß Wildfremde auf einen zuspringen und einem das Gesicht mit Schnee einreiben, weil einem die Nase abzufrieren droht. Das ist dort eine Form von
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