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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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nicht so groß.»
    In dem Moment springt Peggy auf, Ingos Glas in der Hand und schreit: «Faß mich nicht an! Faß mich nicht an! Ich bring dich um!»
    «Ist ja gut», sagt Renz. «Der will doch nur spielen.»
    «Ich bring dich um! Ich bring dich um!»
    Sie schmeißt das Glas auf den Boden.
    Die Wirtin zieht uns weg und schiebt uns durch eine Tür. Wir stehen bei ihr im Wohnzimmer. Die Decke ist niedrig.Überall Schnitzfiguren, wie bei uns zu Weihnachten. In den Fenstern Schwibbögen. Am Kachelofen sitzt ein alter Mann und lächelt. Er macht Versuche aufzustehen, kommt aber nicht hoch.
    «Warum habt ihr denn nicht in der Telefonzelle telefoniert?»
    «Da ging die Nummer nicht.»
    «Wieso? Wollt ihr im Westen anrufen?»
    «In Dresden.»
    «Dann war vielleicht die Vorwahl falsch.»
    «Ich hab nur die Nummer vom Krankenhaus.»
    «Du brauchst die Vorwahl von Dresden.»
    «Das wußte ich doch nicht.»
    «Können wir mal anrufen?»
    «Mitten in der Nacht? Da geht sowieso keiner ran. Wer weiß, ob da überhaupt noch Ärzte oder Schwestern sind.»
    «Wieso denn nicht?»
    «Lebt ihr auf dem Mond?»
    Wir wollen es noch einmal mit der Telefonzelle versuchen, diesmal mit Vorwahl. «Du mußt ganz laut in den Hörer sprechen, wenn es ein Ferngespräch ist», sage ich, «das macht meine Mutter immer so, wenn sie in Rendsburg anruft.» In der Zelle fällt mir ein, daß ich mein Geld ja beim Skat verloren habe. Ich versuche, mir meinen Hosenknopf abzureißen, aber das geht nicht. Und wer weiß, ob das überhaupt funktionieren würde mit Hosenknopf.
    Die Tür der Dorfkirche ist zum Glück offen. Mit einem Streichholz mache ich Licht. Es riecht eigenartig süßlichchemisch. Wenn ich meine Mark wiederhole, ist das eigentlich kein Diebstahl. Ich muß es nur schaffen, sie aus der Orgelpfeife zu kriegen. Peggy leuchtet mir mit Streichhölzern.Vorsichtig drehe ich die Orgelpfeife um, es rasselt, eine Münze liegt quer zum Schlitz, aber mit dem Fingernagel kommt man nicht ran. Man bräuchte ein Buttermesser.
    «Und wenn wir das Schloß aufbrechen? Mit einer Nadel?»
    «Kannst du das denn?»
    «Versuch doch mal. Du mußt vielleicht mit dem Ohr dran lauschen, wie bei der Olsenbande.»
    «Ich hab keine Nadel.»
    «Und ein Schlüssel?»
    «Ein Dietrich wäre gut.»
    Die Pfeife ist mit einem Vorhängeschloß verschlossen, das aussieht wie bei unserem Keller. Zum Glück ist es kein chinesisches Schloß, die sollen ja die besten sein. Irgendwie finde ich das auch logisch, daß die Chinesen so etwas besonders gut hinbekommen, die haben ja auch das Papier erfunden. Der einzige Schlüssel, den ich dabeihabe, ist mein Kofferschlüssel, «Echt Vulkanfiber». Der Schlüssel ist so klein, daß er ins Schloß paßt, das Licht geht an. Ich ziehe schnell den Schlüssel wieder aus dem Schloß. Ein Mann steht in der Tür, graue Haare, die wie selbst geschnitten aussehen, der Pony ganz gerade, im rechten Winkel zu den Haaren an den Schläfen, wie bei Ingo, aber bei ihm sieht es eher aus wie Martin Luther.
    «Kann man euch helfen?»
    Ich bin ein guter Mensch, muß ich denken, aber es käme mir komisch vor, das zu sagen.
    «Sucht ihr was?»
    «Die Tür war offen.»
    «Die Tür ist immer offen.»
    «Ich wollte nur meine Mark wieder, die hab ich gespendet. Wir müssen in Dresden anrufen, weil ihre Mutter Schwindsucht hat.»
    «Da könnte ja jeder kommen.»
    «Aber die Tür war doch offen.»
    «Die Tür ist immer offen.»

30 Das Pfarrhaus steht direkt gegenüber der Kirche, man hat als Pfarrer einen sehr kurzen Weg zur Arbeit. Im Wohnzimmer sehe ich einen Flügel, allerdings nicht von «Steinway», also nicht ganz so wertvoll. Die Tür zu einem Zimmer voller Bücher läßt sich nicht schließen, weil im Türrahmen ein zwei Meter hoher, sehr ordentlich aufgeschichteter Stapel Zeitungen steht, hier und da gucken Zettel als Lesezeichen heraus. Die Bücher in den Regalen kommen mir bekannt vor, zwei Reihen «Insel»-Bücher mit bunten Einbänden, die sammelt mein Vater auch. Er kauft Bücher, wenn sie gutes Papier haben, egal, was drinsteht. Das beste Papier hat zu seinem Leidwesen der Militärverlag.
    «Ihr habt bestimmt Durst?»
    Der Pfarrer verschwindet in der Küche, und wir sehen uns um. Ich fühle mich hier wie zu Hause. In verschnörkelten Goldrahmen Ölporträts von altmodischen Menschen mit Pfarrerkragen. Runde Steine und interessant gebogene Holzstücke in den Regalen. Ein Plakat: «Gott will bei uns wohnen.» Ein anderes, auf dem groß «Zum Beispiel»

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