Schnee an der Riviera
Nelly. Carlo sah, dass sie zitterte.
»Alles wird gut, Nelly«, sagte er leise zu ihr.
»Ja«, erwiderte sie wie ein Schulmädchen, das die gelernte Lektion herunterleiert, und klammerte sich an die Worte wie an eine Zauberformel: »Alles wird gut, ich weiß.«
Je näher sie San Michele di Pagana kamen, um so unfassbarer wurde die Schönheit der Landschaft, und nicht einmal der irrsinnige Strom der Blechkarosserien konnte ihren Reiz trüben. Sie stellten den Wagen auf einem Parkplatz hinter der Ortschaft ab und folgten zu Fuß der kleinen Uferpromenade. Es war ein Abschnitt der Riviera, den Nelly jahrelang sorgfältigst gemieden hatte.
Zum ersten Mal war sie mit Roberto hier gewesen an einem goldenen Septembertag, als sie mit Mau schwanger war. Sie hatten auf den Felsen Focaccia gegessen, Cola aus Dosen getrunken und dann in dem klaren, von der Spätsommersonne noch warmen Wasser gebadet. Roberto war dünn und blass, mit seiner zerbrechlichen Aura des kurzsichtigen Intellektuellen. Er hatte in jenem Sommer wenig Sonne abbekommen. Sie sah mit ihren Sommersprossen und den roten Haaren aus wie eine deutsche Touristin, und ihr Bauch wölbte sich unter dem grotesk gespannten Badeanzug. Es war ein Moment seltenen, unwiederbringlichen Glücks gewesen. Ein Moment, an den man sich in seiner Todesstunde erinnern möchte, den man, wenn möglich, mit hinübernehmen möchte in ein anderes Leben, wenigstens als blassen Widerschein. Es war einer der wenigen perfekten Momente gewesen, dachte sie, während sie dem engen, von Felsen gesäumten Weg folgten, der nach einer Biegung in eine wunderschöne Bucht mündete.
Auch heute waren kaum Menschen hier, nur wenige Touristen kannten diesen zauberhaften Ort, und die Saison hatte noch nicht begonnen. Villa Caterina, leicht erhöht rechter Hand inmitten eines Parks gelegen, wirkte auf edle Art heruntergekommen und alt. Sie war groß und in unverfälscht ligurischem Stil gehalten: verwaschenes Rosa mit dunkelgrünen Fensterrahmen. Ein Gittertor versperrte die Zufahrt zum Haus, und eine hohe Mauer umgab den Park. Nahe beim Tor stand ein winziges Häuschen, sicher das des Wächters. Zwei Fenster waren offen, Wäsche hing auf der Leine. Auf Gerolamos Klingeln hin erschien eine Frau am Fenster.
»Sie wünschen?«
»Polizei. Bitte machen Sie auf.«
Die Frau sah ihn verwundert an. Polizei? Schnell kam sie seiner Aufforderung nach. Das alte Tor öffnete sich automatisch, sie kam den dreien besorgt entgegen, ihr Gesicht ein einziges Fragezeichen. Casa Pittaluga und Polizei waren zwei diametral entgegengesetzte Begriffe, unvereinbar für die Hüterin der Villa.
»Was ist los?«
»Wir kommen wegen der Ermittlungen um Signorina Monica Pittaluga«, sagte Nelly schnell und zeigte ihren Ausweis. »Haben Sie sie in den letzten Stunden zufällig gesehen?«
Die Frau schien nichts von Monicas Verschwinden zu wissen. Dabei hatte Federica ihr doch versichert, dass sie sich keinesfalls in San Michele di Pagana aufhalten konnte. Woher wollte sie das wissen? Ach ja, Matteo Albini hatte sie informiert, der schien ja überall seine Hände im Spiel zu haben.
»Haben Sie gestern nicht mit Dottor Pittaluga gesprochen? Oder haben Sie seinen Angestellten Matteo Albini gesehen?«, fragte die Kommissarin, doch bevor die Frau antworten konnte, sprang Gerolamo plötzlich mit langen Sätzen auf das Haus zu und rief dabei: »Polizei! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus«, und zu Nelly gewandt: »Vorsicht, Dottoressa. Da ist einer im Haus. Bewaffnet. Ich habe ein Gewehr hinter dem angelehnten Fenster dort aufblitzen sehen.«
Nelly rief Carlo zu: »Bleib hier bei der Frau, rühr dich nicht von der Stelle. Du bist unbewaffnet, vielleicht schießen sie«, und rannte hinter Gerolamo her, der den Pfad zum Haus hinaufeilte und dabei Deckung hinter Hortensienbüschen und Bäumen suchte, die die Zufahrt säumten. Der erste Schuss war nicht zu hören, doch in der Nähe des Assistenten brach ein Zweig. Sie schossen mit Schalldämpfer aus dem ersten Stock. Nelly nahm die kleine Steintreppe, die ein Stück an der Auffahrt entlangführte, dann nach rechts auswich und schließlich ebenfalls auf dem Rasen vor dem Haus mündete. Gerolamo erwiderte das Feuer, und der Gewehrlauf verschwand aus der zerbrochenen Fensterscheibe. Nelly und ihr Begleiter kauerten reglos hinter einem Oleander, der den Rasen vor dem Haus begrenzte. Sie hatten nun ein paar Meter ohne jeden Schutz bis zum Haus vor sich.
Nelly befahl: »Gib mir
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