Schnee an der Riviera
aufs Dach laufen würde, und vor allem: weshalb war er überhaupt aus dem Weg geräumt worden? Mit wem hatte Francesco sich da angelegt? Und Mandelli, der hatte sich völlig grundlos umgebracht. Also waren alle Schüler, die irgendetwas mit der Sache zu tun hatten, in Gefahr. Und Nelly wusste noch immer nicht, von wem die Bedrohung ausging. Habib war verschwunden, vielleicht war er schlauer und erfahrener als die anderen und hatte sich irgendwo in der Altstadt versteckt. Und Monica steckte möglicherweise wirklich tief in der Klemme. Nelly rief Gerolamo an.
»Mandelli war unschuldig. Franci ist von hinten erschossen worden, der Schütze befand sich etwa auf Höhe der Dachterrasse. Das war kein Unfall, das war eine Exekution.«
»Ich wusste, dass es nicht Mandelli war, ich hab’s gerochen. Der arme Kerl. Wurde aus einem benachbarten Haus auf den Jungen geschossen?«
»Mit einem Präzisionsgewehr.«
»Himmel! Was für eine Drecksgeschichte ist das denn!«, rief Nellys Assistent, und für einen Moment fiel sein übliches Phlegma von ihm ab.
»Höchstwahrscheinlich wurde der Schuss aus dem Haus neben dem Gymnasium abgegeben. Das oberste Stockwerk wird gerade saniert und steht leer. An dem Tag hat dort keiner gearbeitet. Das hatten wir schon bei der Zeugenbefragung festgestellt. Celsi ist unterwegs. Natürlich war jetzt reichlich Zeit, um eventuelle Spuren zu beseitigen. Könntest du zu ihm fahren, Gerolamo? Ich halte große Stücke auf deine ersten Eindrücke.«
»Bin unterwegs, Dottoressa«, erwiderte Gerolamo und war schon verschwunden.
Nelly unterrichtete gerade den Polizeichef über die neueste Wendung, als sie der Anruf der Kollegen aus Bogliasco erreichte. Habib würde den Gästen des Anatra azzurra nie wieder Bier oder Gras verkaufen. Auch würde er nicht mehr in Physik und Mathe an der Uni glänzen können, hätte er es denn je dorthin geschafft. Er lag am Strand von Bogliasco, unterhalb der Bar Peruzzi , eingewickelt in ein Fischernetz, das man mit Gewichten beschwert hatte. Die Gewichte hatten sich irgendwo in den Klippen verkeilt und waren abgerissen, und die Wellen hatten das nunmehr leichte Netz samt Inhalt mit sich fortgetragen und zwischen Plastikflaschen und fauligen Algen auf den Strand gespült. Jetzt war Habib kein besonders schöner Anblick mehr.
Während Nelly die Überreste dessen, was einmal ein hübscher, lebenslustiger Junge gewesen war, in Augenschein nahm, hatte sie das Gefühl, als bewegte sie sich auf einer dünnen Schicht Treibsand, und die Sonne, die abermals mit aller Macht vom Himmel strahlte, schien sich unmerklich zu verdunkeln. Die Vorahnung weiterer Katastrophen schnürte ihr wie eine unsichtbare Bedrohung die Kehle zu.
»Das ist erst der Anfang.«
Gerolamo, der in aller Eile dazugekommen war, sprach laut aus, was sie dachte.
»Wieso, verdammt noch mal? Wieso?«
»Die picciotti 1 haben sich jemandem widersetzt, der keinen Spaß versteht«, sagte er in seinem sizilianischen Dialekt.
»Wir verstehen auch keinen Spaß, Gerolamo, und wir werden sie aufhalten.«
Gerolamo nickte nicht besonders überzeugt. Dann murmelte er wie zu sich selbst: »Um sie aufzuhalten, muss man sie erst einmal finden.«
Nelly ließ seine bestechende Schlussfolgerung unkommentiert und zog sich die Jacke fest um die Schultern. Sie dachte an Habibs Mutter, an Monica, an Mau. Ein Puzzle voller Löcher und allzu ähnlicher Teilchen. Doktor Parodi, der Gerichtsmediziner, traf mit Celsi und seinen Leuten ein, und sie machten sich sofort an die Arbeit. Man wartete auf den Staatsanwalt, um die Leiche entfernen zu können.
Als Habibs Mutter die Tür öffnete und Nelly und Gerolamo davor stehen sah, fing sie sofort an zu zittern. Dann gaben ihre Beine nach. Sie schien mit einer solchen Nachricht gerechnet zu haben, denn sie ließ die beiden noch nicht einmal ausreden.
»Signora, zu meinem großen Bedauern ...«
»Er ist tot. Mein Sohn ist tot.«
»Es tut mir so leid, Fatima ...«
Ihr Schrei gellte zwischen den hohen, mittelalterlichen Mauern der dunklen Gasse empor und ließ einen Schwarm Tauben erschreckt auffliegen. Noch nie hatte Nelly etwas Derartiges gehört. Zum zweiten Mal in drei Tagen drängte sich ihr die Frage auf, wie sie reagiert hätte, wenn Mau ... Hastig sprang Gerolamo der Frau bei, die angefangen hatte, ihren Kopf gegen den Türrahmen zu schlagen. Nicola, der an der Gassenmündung Wache stand und die Szene aus dem Augenwinkel mitverfolgt hatte, kam ihm zu Hilfe. Speichel
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