Schnee an der Riviera
meine ich«, sagte Gerolamo in seinem typischen, scheinbar teilnahmslosen Tonfall.
»Aber er wird nicht bei meinen Verwandten wohnen, sondern in dem alten Bauernhof im Tal. Niemand im Dorf wird ihn zu Gesicht bekommen.«
»Trotzdem kann man ihn mit dem Dorf in Zusammenhang bringen.«
»Du glaubst ...«
»Wer sich schon so weit vorgewagt hat, hat auch keine Schwierigkeiten, seine Verbindungen nach Castagnole herauszufinden.«
»Keiner weiß von dem Hof. Und meine Verwandten schweigen wie ein Grab. Jetzt lass uns mal nicht übertreiben«, gab Nelly mit mulmigem Gefühl zurück. Gerolamo erwiderte nichts, doch Nelly wusste, dass er anderer Meinung war. Sie gingen zu Santangelo, dem Chef des Drogendezernats.
»Ciao, Alfonso«, grüßte Nelly ihn lächelnd.
»Ciao, Bella«, erwiderte er charmant.
Santangelo war groß, kräftig und blondgelockt. Zumindest war er es einmal gewesen; das, was von seinem Haar geblieben war, bezeugte es. Er war liebenswürdig und aufmerksam, zielstrebig und ausgesprochen dickköpfig. Über ihn kursierten zahllose Gerüchte und Geschichten. Nelly hatte sich immer gut mit ihm verstanden.
»Was weißt du über das Anatra azzurra ? Was für ein Publikum verkehrt dort?«
»Das Anatra azzurra ? Eine Kneipe für Schüler und Studenten auf der Suche nach einem Kick, nach Musik, Alkohol, ein bisschen Gras, sonst nichts.«
Täuschte sie sich, oder war Santangelos Blick misstrauisch geworden?
»Keine harten Drogen? Koks? Heroin?«
»Höchstens ein paar Ecstasy-Pillen. Aber vielleicht noch nicht mal das. Die Betreiber sind zwei Schwule aus Verona, die vor ein paar Jahren hierhergezogen sind. Vorher hatten sie ein Lokal an der Küste, in Loano. Dann haben sie’s verkauft und das Anatra azzurra aufgemacht. Das muss vor vier oder fünf Jahren gewesen sein. Sie heißen Aldo und Nino. Die beiden sind ganz dicke.«
Gerolamo schwieg wie üblich. Außerdem war ihm Santangelo nicht sonderlich sympathisch.
»Wer vertickt in der Stadt gerade das Koks?«, fragte Nelly.
»Da gibt’s mehrere Gruppen, zwischen denen allerdings keine Konkurrenz besteht. Es ist Platz für alle, der Markt brummt. Die Sizilianer, die Marokkaner, die für sie arbeiten, die Schwarzen, ein paar Einzelgänger, die es im Kleinen verticken und sich auf eigenes Risiko mal hier und mal da eindecken.«
Santangelo ließ ein paar Namen fallen. Der von Mau beschriebene Mann war ihm bisher noch nicht untergekommen.
»Die Beschreibung könnte auf alle möglichen Leute passen. Solche Typen gibt es haufenweise. Zum Beispiel Giuseppe, mein Mitarbeiter.«
Er lachte bitter. Nelly verabschiedete sich und verließ mit einem wie hypnotisiert wirkenden Gerolamo das Büro.
»Schläfst du, oder kriegst du noch was mit?«, fragte Nelly ärgerlich.
»Ich hab nachgedacht«, war die vorhersehbare, lapidare Antwort.
Celsi von der Spurensicherung hatte seinen Bericht fertig. Er lag auf Nellys Schreibtisch. Sie fing an zu lesen, sprang plötzlich auf, als hätte das Papier Feuer gefangen, setzte sich wieder und las alles noch ein Mal und noch ein weiteres Mal. Das Projektil, das Franci getötet hatte, stammte nicht aus Mandellis Dienstwaffe. Es war aus einem Präzisionsgewehr abgefeuert worden. Eines, wie es Profis benutzen. Der Flugbahn nach hatte sich der Killer fast auf gleicher Höhe mit der Dachterrasse des Paul Klee befunden. Möglicherweise im obersten Stockwerk des Nachbarhauses, das rund zwanzig Meter links neben der Schule stand.
Die oberste Etage des Gebäudes stand leer und wurde gerade saniert, erinnerte sich Nelly. Es war ihr bei der Tatortbegehung aufgefallen, doch sie hatte dem keine weitere Beachtung geschenkt. Sie rief Celsi an und bat ihn, sich mit den Kriminaltechnikern auf schnellstem Wege dorthin zu begeben und nach möglichen Spuren zu suchen. Wenn tatsächlich von dort geschossen worden war, ließ sich vielleicht noch etwas finden.
Das Szenario, das sich plötzlich vor Kommissarin Rosso auftat, war dermaßen neu und unglaublich, dass jegliche bisher angestellte Vermutung hinfällig wurde. Das Ganze ergab überhaupt keinen Sinn. Doch ein Mord ergab eigentlich immer einen Sinn, das wusste Nelly nur zu gut. Hier handelte es sich jedenfalls nicht um einen durchgedrehten Heckenschützen wie in Amerika. Franci war vorsätzlich und kaltblütig von jemandem hingerichtet worden, der die Szene beobachtet und die Sache auf seine Weise bereinigt hatte. Womöglich hatte er ihm sogar aufgelauert. Doch wer hatte wissen können, dass er
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