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Schnee in Venedig

Schnee in Venedig

Titel: Schnee in Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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die Arbeit angeboten wurde, der sie jetzt jeden Vormittag nachging. Die Arbeit wurde anständig bezahlt, und außerdem eröffnete sie – wie Emilia Farsetti bald herausfand – die Möglichkeit lukrativer Nebenverdienste. Die Brosche, die sie kurz vor Weihnachten im Rahmen ihrer Tätigkeit hatte an sich bringen können, hatte ihr eine Summe eingebracht, mit der sie drei Monate über die Runden kam, doch in der Regel bestand ihre Beute lediglich aus vergessenen Taschentüchern, Kämmen, Schals oder Handschuhen.
    Es war kurz nach neun, als Emilia Farsetti aus dem Gewirr der kleinen Gassen um den Campo della Bragora ins Freie trat und sich an der Riva degli Schiavoni, der breiten Uferpromenade zwischen dem Arsenal und dem Dogenpalast, nach rechts wandte. Zwar schneite es nicht mehr, aber der Himmel, der sich über der Lagune wölbte, sah immer noch aus wie ein dünnwandiger Sack, der jede Sekunde reißen konnte, um eine neue Ladung Schnee auf die Stadt herabzuschütten.
    Zu ihrer Linken, wo ein Segelschiff neben dem anderen am Kai lag, säumte ein Wald aus Masten ihren Weg und hüllte sich in die Nebelschleier, die vom Wasser herüberwehten. Von der Isola di San Giorgio (es war zu dunstig, um die Kirche und die Klostergebäude auf der anderenSeite des Wassers zu erkennen) ertönte das trostlose Warnsignal eines Nebelhorns, und eine Dampferfregatte, die eine schwarze Rauchfahne hinter sich herzog, fiel schwermütig ein.
    Emilia Farsetti schlug den Kragen ihres Umhangs hoch und beschleunigte ihren Schritt. Ein Windstoß blähte den Umhang auf wie ein kleines schwarzes Segel und ließ sie einen Moment lang die feuchte Kälte spüren, die von der östlichen Lagune her auf die Stadt wehte. Sie rechnete damit, dass die Rauchfahne der
Erzherzog Sigmund
jeden Augenblick aus dem Dunst auftauchen würde, denn Raddampfer des Österreichischen Lloyd verspäteten sich fast nie.
    Aber es dauerte noch eine gute Stunde, bis die
Erzherzog Sigmund
, langsam wie eine Schildkröte, auf den Anleger zukroch. Das Schiff schien dem Sturm, dessen Ausläufer Venedig heute Nacht gestreift hatten, nur knapp entronnen zu sein.
    Die
Erzherzog Sigmund
hatte den größten Teil ihrer Reling verloren, und selbst das Schanzkleid am Bug war eingedrückt, so als hätte ein riesenhaftes Meeresungeheuer dem Schiff einen Prankenhieb versetzt. Aus dem Schornstein, der in der Mitte abgeknickt war, sickerte der Qualm wie zäher schwarzer Schleim auf das Vorderdeck. Die Seitenabdeckungen der großen Radkästen hingen herab wie zerbrochene Flügel, und bei jeder Umdrehung der Schaufelräder schrammte Metall gegen Metall und erzeugte ein unangenehmes, schepperndes Geräusch. Auch die Passagiere, die mit steifen Beinen von Bord gingen, sahen aus wie Leute, die gerade aus einem verrückten Albtraum erwacht waren. Und wahrscheinlich – so hoffte Emilia Farsetti – alles Mögliche in ihren Kabinen vergessen hatten.
    Als sie schließlich das Bordrestaurant durchquerte, umihre Tätigkeit in den Kabinen der ersten Klasse aufzunehmen, war es kurz vor elf. In der linken Hand hielt sie einen Mopp und einen Eimer, in der rechten eine Kehrschaufel und einen Handbesen. Im Gang, von dem die Kabinen abgingen, fing sie an,
Gott erhalte Franz, den Kaiser
zu pfeifen. Emilia Farsetti hegte keinerlei patriotische Gefühle.
    Die meisten Passagiere ließen die Kabinentür offen, nachdem sie ihre Kabine geräumt hatten, doch die Tür von Kabine Nummer vier war geschlossen. Das war merkwürdig, aber kein Grund zur Irritation. Emilia Farsetti drehte den Türknopf nach links – ein großer Türknopf aus Messing, auf einer weiß gestrichenen Tür, die mit einer grünen Vier bemalt war – und trat ein.
    Die Kabine enthielt die übliche Ausstattung: die Bettnische, in der zwei Personen Platz fanden, den eingebauten Schrank, zwei Stühle und einen Tisch. Vor der Bettnische, deren Vorhang zugezogen war, erspähte sie zwei Stiefel aus braunem Leder, daneben auf dem Stuhl einen achtlos hingeworfenen Gehrock und einen Zylinderhut.
    Emilia Farsetti blieb abrupt stehen.
    Ihr erster Gedanke war der, dass der Mann hinter dem Vorhang noch schlafen musste. Der zweite war, dass er sicher krank war. Zu einem dritten Gedanken kam sie nicht, denn plötzlich hörte sie sich, mit einer Stimme, die nicht ihre eigene war, sagen:
«Signore! Siamo arrivati a Venezia!»
    Dann hielt sie die Luft an und lauschte. Aber das Einzige, was sie hörte, war das Klopfen ihres Herzens und das Trippeln eines kleinen

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