Schneeballflirt und Weihnachtszauber
verwuschelten Haaren neben mir, dann tappten Omi Anni und Opa Menno aus ihrem Zimmer, und schließlich rannten meine Eltern herbei. »Was ist los?«
Großtante Katrin stand mitten im Flur. Sie trug ein bodenlanges Nachthemd mit Blümchenmuster und hatte ihre dünnen grauen Haare zu einem Zöpfchen geflochten, das ihr über den Rücken hing. Mit weitaufgerissenen Augen starrte sie auf die Treppe, die zum Speicher führte. Sie zitterte. Ihr Mund stand auf.
»Katrin«, sagte Omi Anni energisch. »Stell dich nicht so an. Was hast du?«
»Ich …« Ihre Stimme klang dünn. »Ich habe ein Gespenst gesehen.«
Opa Menno lachte los. »Was du nicht sagst!«
»Du hast geträumt«, stellte Omi Anni fest. »Mach die Augen auf, Katrin. Kein Mensch sieht ein Gespenst, und wenn eines herumgegeistert ist, hat es sich längst in Luft aufgelöst.«
»Ich habe aber eines gesehen«, beharrte Großtante Katrin. »Da ist’s gestanden, da, direkt auf der Treppe zum Speicher!«
»Cool«, sagten die Zwillinge.
Meine Mutter legte den Arm um Großtante Katrins Schultern. »Wir gehen jetzt wieder ins warme Bett, Katrin«, meinte sie beruhigend. »Ich werde dir einen Kamillentee kochen, dann schläfst du wie ein Murmeltier.«
»Schlafen? Wenn ein Gespenst umgeht?«, schrie Großtante Katrin. »Kein Auge werde ich zutun!«
»Schade, dass du das Gespenst gesehen hast und nicht wir, nicht wahr, Line?« Lene ging zur Treppe. »Wo genau ist es denn gestanden? Hier? Oder weiter oben an der Tür?«
»Das weiß ich nicht so genau.«
Lene ließ nicht locker. »Kannst du uns wenigstens sagen, wie es ausgesehen hat?«
»Weiß. Und groß. Und … es hatte keinen Kopf.«
»Echt? Wie gruselig!« Line und Lene hüpften herum. »Bei uns spuckt es! Wir haben ein kopfloses Gespenst!«
»Das ist nicht zum Lachen«, schimpfte Großtante Katrin. »Wenn ihr es gesehen hättet, würdet ihr vor Angst vergehen.«
»Jetzt reicht’s«, sagte Opa Menno. »Es gibt keine Gespenster. Katrin, trink deinen Kamillentee und schlaf weiter.«
Großtante Katrins Schreie und unsere lauten Stimmen hatten Popeye geweckt. Niemand hatte ihn kommen hören; plötzlich stand er am Fuß der Treppe, die zum Speicher führte, knurrte und jaulte und winselte und scharrte mit den Beinen.
»Guckt euch den Hund an!«, rief Großtante Katrin. »Er riecht das Gespenst!«
»Er riecht die Mäuse«, sagten Line und Lene. Ich kniete neben Popeye und hielt ihn mit aller Kraft am Halsband fest. Mein Vater rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch, machte die Tür auf, knipste das Licht an – ich wünschte mir, in Ohnmacht fallen zu können.
Natürlich wollten ihm die Zwillinge folgen. »Ihr bleibt hier!«, befahl meine Mutter. »Oder wollt ihr an Weihnachten mit einer saftigen Erkältung im Bett liegen?«
»Wir könnten unsere Bademäntel – «
»Nichts da!« Manchmal ist meine Mutter energischer als die Männer in unserem Haus.
Ich hörte, wie mein Vater Schränke auf- und zumachte, wie er herumtappte und rief: »Ist da wer?« Dann, nach einer ganzen Ewigkeit, machte er das Licht wieder aus und kam zurück. »Katrin, da oben treibt sich kein Gespenst herum. Glaub mir, du hast nur einen schlimmen Traum gehabt.«
»Unsinn! Ich war hellwach, als ich aufs Klo ging.«
Plötzlich kicherte Line und streckte den Zeigefinger aus. »Opa Menno! Halte deine Schlafanzughose fest; sie rutscht immer weiter nach unten.«
Opa Menno zog erschrocken die Hose bis übern Bauchnabel hoch. »Anni! Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass der Gummi ausgeleiert ist, aber du glaubst mir ja nicht!«
»Wundert dich das, Menno? Sie glaubt ja auch nicht, dass ich ein Gespenst gesehen habe«, klagte Großtante Katrin.
»Wenn sich bei uns tatsächlich ein Hausgespenst eingenistet haben sollte, werden wir es früher oder später zu Gesicht bekommen«, meinte mein Vater.
Das hoffte ich nicht. Ich wusste schließlich, um wen es sich bei dem Gespenst handelte. Und warum es sich mitten in der Nacht nach unten geschlichen hatte. Es war mein Fehler; ich hätte an einen Nachttopf denken sollen.
Wir zogen uns in die Zimmer zurück. Kurze Zeit später hörte ich, wie meine Mutter Großtante Katrin den Kamillentee brachte. Ein Fensterladen schlug gegen die Wand, die Äste der großen Kastanie im Hof knarrten. Der Schnee fiel in dicken Flocken; Stille senkte sich aufs Haus.
Eigentlich wollte ich wach bleiben, denn ich traute Großtante Katrin zu, dass sie sich heimlich auf den Speicher
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