Schneebraut
einmal von Kristín.
Er versuchte, an etwas anderes zu denken. Er hatte ebenfalls kein Geschenk geschickt. Der erste Schritt musste von ihr ausgehen.
Er hatte sich einzureden versucht, dass es keine Rolle spielte, ob ein Geschenk unterwegs sei oder nicht – und doch hatte er sich selbst dabei ertappt, wie er regelmäßig aus dem Küchenfenster spähte, während er den Braten zubereitete. Und schließlich wurde die Post im Briefkasten eingeworfen – eine Weihnachtskarte. Er riss den Umschlag mit angehaltenem Atem auf, das Herz klopfte etwas schneller.
Zum Teufel.
Sie war von seinem Jugendfreund Andrés. Er versuchte, die Enttäuschung von sich zu schieben und freute sich über die Aufmerksamkeit seines Freundes. Nun hatte er dieses Jahr also wenigstens eine Weihnachtskarte bekommen, wenn auch kein Geschenk.
Ab und zu nahm er das Telefon in die Hand, um Kristín anzurufen, als ob eine innere Stimme den Geist von Weihnachten beschwören wollte – leg den Streit beiseite, ruf sie an und wünsche ihr fröhliche Weihnachten. Aber die Verbitterung war zu groß. Er legte das Telefon jedes Mal wieder zur Seite.
Er hatte nichts Unrechtes getan. Sie musste den ersten Schritt tun.
Oder etwa nicht?
***
Tómas band seine Krawatte vor dem Spiegel. Mit müden, schweren Augen.
Er verstand nicht, warum sie wegziehen wollte.
Er verstand es einfach nicht. Hatte er etwas getan?
Sie waren seit dreißig Jahren verheiratet. Im Herbst hatte sie damit angefangen, direkt und indirekt; sie wollte weg, aus dem Dorf wegziehen. In den Süden, ein Studium anfangen. Er müsse selber entscheiden, ob er mitkommen wolle. Das war aber nie eine konkrete Option gewesen – er konnte sich nicht vorstellen, weder Siglufjörður noch seinen Dienst aufzugeben. Hoffentlich änderte sie ihre Meinung noch, doch das schien nicht der Fall zu sein.
»Scheiden? Redest du von Scheidung?«
»Nein … ich möchte unbedingt, dass du mitkommst.« Die Stimme gab aber deutlich zu erkennen, dass seine Entscheidung keinen Einfluss auf das Resultat hatte. »Ich brauche einfach eine Veränderung.«
Aber er brauchte keine Veränderung.
Sie hatten es noch nicht mit dem Jungen besprochen, mit Tommi. Vielleicht war er kein Junge mehr. Ein erwachsener Mann, fünfzehn, der im nächsten Herbst nach Akureyri aufs Gymnasium wollte. Der ältere Sohn war schon lange ausgezogen, vor zehn Jahren – kam nur noch selten in den Norden.
Sie wollte bis zum Frühling warten und dann in den Süden ziehen.
Veränderung.
Er sah es ihrem Gesicht an, dass sie nie wieder zurückkommen würde.
Und dann würde Tommi aufs Gymnasium gehen – und er würde allein zurückbleiben.
Er versuchte, sich auf den Spiegel zu konzentrieren, die Krawatte war immer noch zu kurz. Er nahm sie nochmals ab, versuchte es erneut.
Verdammte Krawatte.
Sie hatte sie ihm letzte Weihnachten geschenkt.
Sie würde nicht wiederkommen.
***
Es war kurz vor sechs Uhr, als das Telefon auf der Polizeiwache klingelte.
Ari erschrak. Das Schweigen war überwältigend, nur das Rauschen des Computers war zu hören, das Ticken der Uhr an der Wand.
Ein Gefühl von Schwermut hatte ihn überwältigt. Ein Gefühl, das immer schlimmer wurde, je dichter der Schnee fiel. Nichts war wahrscheinlicher, als dass die Wettergötter eine dicke Mauer um das Haus bauen würden, durch die er nie herauskommen könnte. Ihm wurde schwarz vor Augen und für einen Moment hatte er große Mühe zu atmen.
Als das Telefon erneut laut klingelte, atmete Ari tief ein, starrte vor sich hin und ließ die Luft seine Lungen füllen – als ob er noch nie Luft in seinen Lungen gespürt habe.
Kristín? Er spähte nach seinem Handy. Das Display war dunkel. Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis er realisierte, dass es sich gar nicht um sein Telefon handelte, sondern um den Apparat auf dem Tisch vor ihm, das Telefon der Wache.
Hier passiert nie etwas.
Ari beeilte sich zu antworten.
»Polizei.«
Keine Antwort.
Und doch war es offensichtlich, dass jemand in der Leitung war. Er schaute die Nummer an, von der aus angerufen wurde. Eine Handynummer.
»Hallo?«
»…
er
…«
Ein leises Flüstern, es war schwierig, daraus das Alter oder das Geschlecht des Gesprächsteilnehmers zu erkennen.
Ein Schaudern ergriff Ari. Er war sich nicht sicher, ob dafür der Gesprächspartner oder der Schnee verantwortlich waren.
Hörte es denn nie auf zu schneien?
»Hallo?«, sagte er erneut und tat sein Bestes, seine Stimme tief und autoritär klingen zu
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