Schneebraut
lassen.
»… ich glaube, dass er mir etwas antun könnte …«
Ari glaubte, dass da Angst in der Stimme zu hören war. Angst und Verzweiflung. Oder etwa nicht? Hatte er vielleicht lediglich seine eigene Furcht, sein eigenes Gefühl des Eingeschlossenseins und seine Einsamkeit auf den Gesprächspartner übertragen?
»Wie bitte? Was sagst du?«
Die Verbindung wurde unterbrochen. Er versuchte, zurückzurufen. Keine Antwort. Er suchte die Nummer im Telefonbuch, doch es war niemand unter dieser Nummer registriert, wahrscheinlich handelte es sich um eine SIM -Karte, die jemand an einem Kiosk gekauft hatte – vielleicht dem Kiosk in Siglufjörður, doch es konnte genauso gut ein Anruf von sonst woher auf dem Land gewesen sein.
Er hatte nicht die geringste Idee, wie er darauf reagieren sollte. Wartete einen Augenblick. Rief dann erneut an.
Es klingelte.
Jemand antwortete.
Dasselbe Flüstern wie vorher.
»Entschuldige … das war nur eine Dummheit von mir … Entschuldige.«
Die Leitung wurde erneut unterbrochen.
Ari war verwirrt – Dunkelheit draußen.
Diese verdammte Dunkelheit.
»Ruf mich einfach an, falls es etwas gibt«, hatte Tómas mit einer Spur von schlechtem Gewissen in der Stimme gesagt; es tat ihm offensichtlich leid, den Neuen an Weihnachten alleine auf der Wache zurückzulassen.
Die Uhr zeigte jetzt sechs Uhr. Tómas hatte sich aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht einmal umgezogen. Ein Mann, der das Leben gelassen anging und sich nicht umsonst in etwas stürzte, nicht einmal in die Weihnachtsfesttage.
Zum Teufel nochmal. Ari nahm den Hörer und rief Tómas an.
»Hallo?«, antwortete eine donnernde, aber dennoch warme Bassstimme auf der anderen Seite der Leitung.
»Tómas? Ari hier am Apparat … entschuldige, dass ich dich zu dieser Zeit anrufe …«
»Ach was!«, meinte Tómas und wirkte ein wenig niedergeschlagen. »Weihnachten beginnt erst, wenn wir bereit sind, ich lasse mich von nichts stressen – wir sind immer noch dabei, die Geschenke einzupacken. Das Schlimmste ist, dass der Pfarrer mit dem Gottesdienst immer um Punkt sechs Uhr beginnt, doch es wäre nicht das erste Mal, dass wir erst nach der Hälfte auftauchen.« Er lachte ein wenig, aber etwas gekünstelt.
Ari berichtete ihm in kurzen Worten von den beiden Telefongesprächen.
»Mach dir deswegen keine Gedanken«, sagte Tómas mit dem Kopf anderswo, müde. »Wir bekommen immer wieder solche Anrufe, jemand will uns einen Streich spielen – normalerweise irgendwelche Kinderlümmel … die lieben Kinderlein.« Er zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Und dann hat er sich entschuldigt – oder sie –, fast schon etwas eingeschüchtert, als du zurückgerufen hast, oder etwa nicht?«
»Ja … doch, ganz bestimmt.«
»Mach dir deswegen keine Gedanken – verdammt mies, an Weihnachten der Polizei einen solchen Streich zu spielen. Einige sollten sich wirklich schämen. Nun denn, mein Kollege, am besten, du kümmerst dich jetzt erst mal um die frohe Botschaft zu Weihnachten.« Er lachte erneut dasselbe vorgetäuschte Lachen. Ari versuchte zu lächeln, um das Unbehagen abzuschütteln, das dem Flüstern am Telefon gefolgt war.
»Könnte es nicht sein … ja denn, viele Grüße an die Familie.«
»Werde es ausrichten.«
»Und fröhliche Weihnachten«, fügte Ari noch hinzu, doch Tómas hatte bereits aufgelegt.
Ari nahm sein Weihnachtsbuch wieder zur Hand, obwohl er eigentlich bis nach dem Abendessen damit warten wollte. Er musste seine Gedanken etwas zerstreuen. Konnte sich aber nicht konzentrieren, stand auf, öffnete die Tür nach draußen. Er trat in den Schnee hinaus und schaute zu den Bergen hoch. Die Bewohner hatten die Berge mit dem Tunnel besiegt – und sie hatten sogar ihr Bestes getan, um die Naturgewalten mit starken Lawinenverbauungen zu besiegen, die so gewaltig waren, dass sie eher den Anschein machten, von Trollhänden als von Menschen geschaffen worden zu sein. Doch es gab keinen Weg, um den Schnee und die Dunkelheit zu besiegen. Ari schaute zum Himmel hoch und schloss die Augen, erlaubte den Schneeflocken, sich behutsam auf sein Gesicht zu legen, eine nach der anderen, bot ihnen Schutz.
Ein leises Piepen drang aus dem Haus.
Dieses Mal bestand kein Zweifel, dass es von seinem Handy und nicht vom Festnetztelefon stammte.
Kristín!
Er wischte sich den Schnee aus dem Gesicht, eilte mit wenigen Schritten zu seinem Schreibtisch und wäre beinahe auf seinen feuchten Schuhen ausgerutscht. Der Schreibtisch
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