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Schneebraut

Schneebraut

Titel: Schneebraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ragnar Jónasson
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ihm allerdings keine Gelegenheit zur Gegenrede, sondern wandte sich an Nína: »Nína, könntest du bitte meine Jacke holen, ich habe etwas Kleines in der Tasche vergessen.«
    Leifur schaute zu, wie Hrólfur eine Zeitung aus der Jackentasche nahm und zudem etwas, das auf den ersten Blick wie eine kleine Flasche aussah. Er gab Nína die Jacke zurück und schlenderte in den Saal, so schnell, wie der altersschwache Körper es noch eben erlaubte. Es war nicht zum ersten Mal, dass Hrólfur mit einer kleinen Flasche zur Probe gekommen war – jetzt war er aber mit dem Wagen unterwegs, da es regnete, also würde wahrscheinlich Anna, die wie er am Hólavegur wohnte, ihn am Ende des Abends nach Hause fahren.
    Inzwischen waren auch Ugla und Karl eingetroffen. Úlfur schaute sich um. Es war offensichtlich, dass er ziemlich irritiert war, sich aber bemühte, so zu tun, als ob nichts passiert wäre. »Na also, dann wollen wir mal in den Saal gehen.«
    ***
    Während Ugla und Karl noch mitten im Saal standen und miteinander redeten, stand Anna oben auf der Bühne und verfolgte Pálmi, der in tiefe Gedanken versunken schien. Für einen alten Mann war er ziemlich fix in seinem Handeln, fand sie, doch sein Alter ließ sich dennoch nicht verbergen, weder im Gesicht noch in den Bewegungen. Es hatte offenbar seinen Tribut gefordert, Jahr für Jahr unartige Grundschüler zu unterrichten – und jetzt war er alleine und verlassen. Er war nun Rentner, wohnte immer noch in Siglufjörður und vertrieb sich die Zeit mit Schreiben in Dunkelheit und Kälte.
    War das tatsächlich das Leben, das sie sich vorgestellt hatte? Machte es irgendeinen Sinn, sich für die Stelle der Grundschullehrerin zu bewerben und sich hier im Dorf niederzulassen? Oder war es besser, wieder in den Süden zu ziehen? Sie gestand sich selber bereitwillig ein, dass sie manchmal an ihrer Entscheidung zweifelte, doch andererseits war es eine einfache Wahl – einfacher, als alleine nach Reykjavík zu ziehen und auf eigenen Füßen stehen zu müssen. Hier konnte sie noch einige Jahre bei Mama und Papa in der Kellerwohnung bleiben und sich dann eine billige Wohnung suchen – hier kannte sie alle, es gab keine Überraschungen.
    Sie ließ von Pálmi ab und schaute zum Balkon hoch, von wo Hrólfur und Úlfur über den Saal äugten. Ugla und Karl betraten die Bühne, sie waren bereit für die Generalprobe – und Leifur stand hoffentlich hinter der Bühne. Anna verspürte stets eine kleine Irritation, wenn sie Ugla anschaute – dieses Mädchen aus dem Westen, das ihr die Hauptrolle weggeschnappt hatte. Die Auswärtige. Sie hätte einfach froh sein müssen, überhaupt mitmachen zu dürfen.
    Anna glaubte allerdings zu wissen, warum es so gekommen war. Der Alte – Hrólfur – hatte dieses Mädchen, das bei ihm die Kellerwohnung gemietet hatte und ihn auch noch regelmäßig zum Kaffee traf, nachdem sie ausgezogen war, unter seine Fittiche genommen. Er hielt seine schützende Hand über sie – und Anna war überzeugt davon, dass dies die Entscheidung bei der Besetzung der Hauptrollen beeinflusst hatte. Úlfur war zwar dem Namen nach der Regisseur – doch derjenige, der die Entscheidungen traf, das wusste Anna ganz genau, das war Hrólfur, der stets am längeren Hebel saß, entschlossen, felsenfest.

16. Kapitel
    Er schien genauso heftig zu erschrecken wie sie, als ein lautes Klingeln aus seiner Jackentasche drang; als ob er vergessen hätte, dass auch er ein Handy besaß.
    Sie bekam die Gelegenheit, nach Luft zu schnappen. Nach Luft zu schnappen und zu überlegen. Was konnte sie nun noch erwarten? Sie konnte ihm die Zahlenkombination nicht nennen, außer, sie würde ihren Mann anrufen. Es war sehr unwahrscheinlich, dass er ihr das erlauben würde – und ohnehin unwahrscheinlich, dass sie es schaffen würde, im Moment auch nur einen klaren Satz von sich zu geben.
    Sie war ihm von keinem Nutzen mehr. Vielleicht wollte er auf ihren Mann warten – ihn dazu bringen, den Tresor zu öffnen. Dann wäre sie womöglich noch für etwas gut gewesen: Die Zahlenkombination im Tausch gegen das Leben der Ehefrau. Doch sie war sich nicht sicher.
    Er ging an das Handy ran, versuchte, so wenig wie möglich zu sagen und antwortete lediglich mit einsilbigen Antworten.
    Er hatte ihr bereits einmal gedroht, sie umzubringen. Versuchte er nur, ihr etwas vorzugaukeln, oder meinte er es ernst? Erneut war sie sich nicht sicher.
    Da öffnete sich plötzlich ein Schlupfloch; nun musste sie sich entscheiden.

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