Schneebraut
abgeschlossen und beschlossen, sich an ihr früheres Versprechen zu halten, sich ein Jahr Auszeit zu nehmen und wieder nach Hause zu ziehen, bevor der nächste Schritt entschieden wurde. Der Arbeitsmarkt in Siglufjörður war allerdings nicht gerade am Aufblühen, der einzige Job, den es gab, war der im Supermarkt, zudem hatte sie nach und nach einige Schichten im Krankenhaus übernommen, wo sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte, weil sie ihren Großvater dort regelmäßig besuchen konnte, der in der Pflegeabteilung des Krankenhauses lag.
Jetzt hatte aber ein neues Jahr angefangen – in diesem Jahr würde sie sich über ihre Zukunft im Klaren werden müssen. Kurz nachdem sie in den Norden zurückgekommen war, hatte sie erfahren, dass im Frühling eine Lehrerstelle in der Grundschule frei werden würde – das war eine Position, die für sie sehr spannend war. Dann könnte sie weiterhin im Dorf bleiben – da, wo sie sich wohl fühlte. Zudem war es nicht einfach, im Süden eine Anstellung als Lehrerin zu bekommen, da wegen der Krise überall Stellen gestrichen wurden. Sie träumte davon, ihre Erfahrungen, die sie gemacht hatte, weiterzuvermitteln. Die Anstellung an der Grundschule würde genau zu ihr passen. Sie hatte dem Schulleiter bereits mitgeteilt, dass sie Interesse an der Position habe – das hatte sich herumgesprochen, viele Eltern freuten sich, diese junge Frau an der Schule zu sehen. Die meisten gingen davon aus, dass sie die Stelle bekommen würde, doch offiziell war noch nichts entschieden worden.
***
Als Leifur ins Foyer trat, stand Anna da, bestaunte die alten Plakate und schien in Gedanken ganz woanders zu sein. Er sah gerade einmal den Ausdruck auf ihrem Gesicht; sie erinnerte ihn von diesem Blickwinkel aus sehr stark an ein Model, sie hatte ein auffallend schönes Profil. Dunkles, langes Haar, eine feine Nase und einen zierlichen Mund. Sie drehte sich zu ihm um: »Hi.«
Leifur grüßte sie. Es war ungewöhnlich, wie sie sich veränderte, wenn er ihr ganzes Gesicht sah, nun schien sie in ihrem Aussehen geradezu farblos zu sein, als ob ihre Anmut regelrecht verschwunden sei – sie blieb nur noch ein bisschen im Gesichtsausdruck zurück. Bemerkenswert, wie eine Veränderung des Blickwinkels einen solchen Unterschied ausmachen konnte. Das Mädchen mit den zwei Gesichtern.
Vielleicht hätte er versuchen sollen, sie besser kennenzulernen. Das war nicht gerade seine Stärke – und zudem war sie viel jünger als er. Sie würde wohl kein besonderes Interesse daran haben, mit ihm ihre Zeit zu verbringen.
Er schaute kurz zur offenen Tür hinaus; sah den roten Mercedes vor dem Haus, der Vorsitzende des Theatervereins war eingetroffen. Er stieg aus dem Wagen.
»Nun werden wir dieses verdammte Stück also noch zusammenschustern!«, sagte Hrólfur, als er ins Foyer trat. Er verfügte über ein lautes Sprechorgan.
»Ja, ich glaube, dass es gut gelingen wird«, meinte Anna höflich.
»Gut!? Es wird niemals gut gelingen, nicht mit einem derartigen durchschnittlichen Werk in den Händen – und Amateuren auf der Bühne. Aber vielleicht wird es glimpflich ausgehen.«
Er zog seine Jacke aus und hielt sie unwillkürlich Nína hin, ohne ein Wort an sie zu richten. »Ich erinnere mich noch, als ich nach Edinburgh fuhr, das war um 1955 , glaube ich – las ich aus meinem Buch und schaute mir verschiedene Aufführungen während des dortigen Kunstfestivals an. Das war Theater, kann ich dir sagen – richtiges Theater. Ich weiß manchmal nicht, warum ich die Zeit hier an solche Dilettanten verschwende.«
Nína hatte die Jacke entgegengenommen und aufgehängt. Úlfur und Pálmi trafen ein; Pálmi machte seinen Schirm zu, bevor er eintrat, und Úlfur kam hinterher.
»Dann ist es vielleicht für dich an der Zeit, aufzuhören«, sagte Úlfur mit leiser, aber deutlicher Stimme. Hrólfur drehte sich um.
Er sah auf den kleingewachsenen Mann hinab, der vor ihm stand. Úlfur war alt und müde, mit runder Brille und einem schwarzen Filzhut.
»Aufhören? Bist du nicht bei Trost, Úlfur? Es gibt hier keinen, der das alles von mir übernehmen könnte. Ich muss mich weiterhin dieser Sache opfern, ich habe noch viele Jahre vor mir – da kannst du dir sicher sein, mein lieber Úlfur.«
Es bestand kein Zweifel daran, dass Úlfur aus vollem Hals auf diese Aussage antworten wollte. Das Blut schoss in seine Wangen, seine Augen verengten sich, und er riss sich den Hut vom Kopf. Die Glatze wurde sichtbar.
Hrólfur gab
Weitere Kostenlose Bücher