Schneebraut
unbedingt überzeugt. Er verspürte die Trauer immer noch. Er war immer noch wütend, wusste aber nicht genau, auf wen. Er – oder sie – lebte heute mit Sicherheit ein gutes Leben, war vielleicht sogar über alles hinweggekommen. Hatte Árni vielleicht nicht einmal gekannt. Ihm – oder ihr – war es vielleicht vollkommen egal, dass ein junger Mann die Welt, seine Eltern und seinen Bruder verlassen hatte.
Árni hätte es sich sicher gewünscht, dass die Familie ihr Leben weitergelebt hätte, dass sie denen vergebe, die dafür verantwortlich waren. Árni war einfach so. Ein unschuldiger, siebzehnjähriger Junge, der jederzeit bereit war, zu verzeihen. Doch Leifur verzieh nichts.
***
Linda Christensen durfte endlich nach Hause. Sie fühlte sich nach einer langen Schicht nicht wohl.
Sie dankte Gott dafür, dass wenig Schnee in den letzten Tagen gefallen war. Die Kälte war mühsam, doch die Dunkelheit war noch viel schwieriger und ungemütlicher.
»Ich gehe dann mal«, rief sie der Krankenschwester zu, die für die weitere Schicht verantwortlich war. Sie sprach fehlerfrei Isländisch, war in Island geboren, hatte aber lange in Dänemark gelebt. Der dänische Akzent, der im ersten Jahr, nachdem sie wieder zurückgezogen war, manchmal durchschimmerte, war mittlerweile gänzlich verschwunden, und doch fühlte sie sich nicht als Isländerin – sondern als Dänin. Vielleicht würde sich das mit der Zeit noch ändern.
Sie zog ihren Mantel an und machte sich auf den Weg nach Hause.
***
Leifur war auf dem Weg nach Hause. Das Wetter war ungewöhnlich gut.
Es war natürlich eiskalt, aber absolut windstill, es hatte in den letzten Tagen so gut wie gar nicht geschneit, jetzt am Nachmittag ein ganz klein wenig, doch das war nicht der Rede wert.
Leifur traf Linda, seine Nachbarin von unten, vor dem Haus an der Þormóðsgata. Sie hielt ihren Mantel eng um den Körper geschlungen, war ein wenig bleich und sah erschöpft aus. Sie zuckte etwas zusammen, als sie ihm begegnete.
»Hallo«, sagte sie und zögerte. »Hast du dich von der Probe weggeschlichen?« Die Sorge in ihrer Stimme war deutlich zu hören, obwohl sie versuchte, einen leichten Ton anzuschlagen.
»Nein – Úlfur würde ausflippen«, antwortete Leifur. »Die Probe ist seit einer Viertelstunde zu Ende.«
Er lächelte, bemerkte aber, wie sich in ihren Augen Verwunderung, Wut und Enttäuschung breitmachten.
15. Kapitel
Siglufjörður,
Freitag, 9 . Januar 2009
Anna Einarsdóttir war am Donnerstag von der Probe freigestellt worden, so wie jeden Donnerstag, da sie die Nachmittagsschicht im Krankenhaus übernehmen musste. Es war leider nichts daran zu ändern, sie spielte – leider – nicht die Hauptrolle, so dass es dem Regisseur sehr gut in den Kram passte, donnerstags die Szenen mit Karl und Ugla zu proben.
Anna traf am Freitag Punkt vier Uhr zur Probe im Kinosaal ein, sobald ihre normale Schicht im Supermarkt beendet war. Er war nicht weit weg – sie war im Regen über den Rathausplatz geeilt. Das Wetter war den ganzen Tag windstill und gut gewesen, doch um halb vier hatte es angefangen, wie aus Kübeln zu schütten.
Sie trat ins Foyer und trocknete die nassen Schuhe behutsam auf dem großen Teppich vor der Tür ab. Nína Arnardóttir saß im Ticketverkauf und strickte. Sie grüßte Anna mit warmer Stimme.
»Hi«, antwortete Anna. »Bist du schon lange hier?« Sie kannte die Antwort; wenn es auf die Premiere zuging, war der Theaterverein Nínas zweites Zuhause. Sie lebte allein und schien es zu genießen, die Stimmung und den Stress einzuatmen – war vor allen anderen schon da und ging als Letzte nach Hause.
»Ja, ich bin nach Mittag gekommen, irgendjemand muss ja dafür sorgen, dass alles bereitsteht, wenn die Sternchen dann eintrudeln«, antwortete Nína und lächelte.
Anna fühlte sich um Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückversetzt, wenn sie in diesem Foyer zwischen all den alten Plakaten stand, die dort aufgehängt worden waren – zumindest bis in die Nachkriegszeit, einer Zeit, die sie selber nur aus Büchern oder Filmen kannte. Sie selbst war erst vierundzwanzig, geboren und aufgewachsen in Siglufjörður, war nach Süden, nach Reykjavík, gezogen, um aufs Gymnasium und danach direkt auf die Uni zu gehen. Als sie das Gymnasium besuchte, wohnte sie bei ihrer Tante im Fossvogur, doch als sie zur Uni ging, um Geschichte zu studieren, zog sie so schnell wie möglich in eine Studentenwohnung. Jetzt hatte sie das Studium mit dem BA
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