Schneebraut
Er war in den Flur getreten, um das Gespräch fortzusetzen, sie folgte ihm – sah, dass er nach links ging, dorthin, wo der Flur zum Gästezimmer und die Tür zum Garten hinausführten. Nach rechts lag der Gang am Wohnzimmer vorbei in die Eingangshalle – der Weg zum Ausgang.
Sie hörte, wie sich der Klang seiner Stimme etwas entfernte, er war wahrscheinlich noch ein paar weitere Schritte den Flur hinuntergegangen; ging davon aus, dass sie sich in der kleinen, fensterlosen Kammer ruhig verhalten würde.
Wie ein Tier im Käfig.
Sie dachte an ihren Mann, der auf dem Weg zum Flugzeug war; auf dem Weg nach Hause. Was würde er ihr in dieser Situation raten? Es war mit Sicherheit die einzige Gelegenheit, die sich ihr bieten würde. Sollte sie sie ergreifen oder warten und hoffen?
Wahrscheinlich gab es nicht nur einen Aspekt, der ihre Entscheidung beeinflusste; der Instinkt schien die Überhand zu nehmen.
Sie spähte kurz in den Flur hinaus. Er drehte ihr den Rücken zu. Das war die Gelegenheit. Sollte sie rennen und die Aufmerksamkeit auf sich lenken oder schleichen?
Sie trat in den Flur; er hatte sie noch nicht bemerkt. Sie ging rasch, aber dennoch geräuschlos – noch hörte sie niemanden sich nähern.
Ihr Herz schlug wie wild, und sie war sich sicher, dass er ihren Herzschlag hören musste, so laut kam es ihr vor.
Sie schaffte es um die Ecke, aus seinem Blickfeld, und nun waren es nur noch wenige Schritte bis zur Tür. Sie wusste, dass die Tür verschlossen war, sie brauchte zwei Handgriffe, um sie zu öffnen – abgestimmte Bewegungen, sichere Hände.
Und dann hörte sie es. Er hatte es bemerkt. Sie sprang in einem Satz auf den Türgriff zu. Doch ihre Hände ließen sich nicht beherrschen, sie verhedderte sich, verlor wertvolle Sekunden. Sie wusste, dass es ihn nur wenige Augenblicke kosten würde, um sie zu erreichen.
Sie unternahm einen weiteren Versuch.
17. Kapitel
Siglufjörður,
Freitag, 9 . Januar 2009
Hier passiert nie etwas.
Das Foyer des Kinos war großartig, die Plakate öffneten den Zugang zu einer Welt vergangener Zeiten, die Geschichte hing in der Luft – hier in Siglufjörður war die Kunstgöttin in schlechten wie in guten Zeiten stets zugegen gewesen. In den goldenen Jahren des Dorfes waren vom Theaterverein verschiedene Stücke auf die Bühne gebracht worden, als so viel Hering im Meer herumschwamm, dass Tag und Nacht gesalzen werden musste. Hier waren auch Stücke inszeniert worden, als der Hering schon längst wieder verschwunden war, als Wohlstand nichts anderes mehr als ein Begriff im Wörterbuch der Dorfeinwohner war. Auf der Bühne waren Romanzen entfacht worden und Liebesglühen erloschen, dort hatten Menschen gelebt und waren dort gestorben – ja sogar ermordet worden, vor einem vollen Saal von Zuschauern.
Es hatte seit der Kaffeezeit ununterbrochen geregnet, doch nun hatte sich der Himmel etwas aufgehellt. Ari war kein besonders interessierter Theaterbesucher, hatte aber die Spannung, die einem guten Stück folgte, doch auch schon miterlebt. Die Spannung in der Luft war manchmal richtig greifbar – doch das war nur gerade mal ein feiner Hauch, verglichen mit der Stimmung im Kino an diesem Freitagabend. Es gab keine Vorstellung auf der Bühne, und der Saal war leer. Das Einzige, was vor Tómas und ihm, die beide an diesem Abend Dienst hatten, aufgetaucht war, war ein bewegungsloser Körper. Ein toter Körper, daran gab es keinen Zweifel. Tómas versuchte dennoch, den Puls zu erspüren, doch vergeblich.
Beim Theaterverein hatte man zweifelsohne auch schon früher einmal Blut gesehen, zumindest so etwas, das in den Augen der Zuschauer wie Blut ausgesehen hatte. Das Blut, das aus der Wunde am Kopf des alten Mannes geflossen war, wirkte trotz allem erschreckend unwirklich. Als ob es hier nichts zu suchen hätte. Wie Ketchup in einem billigen Gruselspiel.
»Er ist die Treppe heruntergefallen«, sagte Ari.
»Das kann jeder sehen«, sagte Tómas mit barschem Ton, die gute Laune, die ihn sonst Tag für Tag auszeichnete, war verschwunden. Er schien sich vollkommen bewusst zu sein, dass es sich hier um eine ernsthafte Angelegenheit zu handeln schien, die es noch mit sich bringen würde, Aufmerksamkeit zu erregen.
Auf dem Boden lag die berühmteste Persönlichkeit des Dorfes, der Schriftsteller Hrólfur Kristjánsson, der zu seiner Zeit einer der bekanntesten Autoren des Landes gewesen war. Obwohl er in den letzten Jahren und Jahrzehnten vielleicht etwas in Vergessenheit geraten
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