Schneebraut
selber hatte es aufgegeben, den Wetterbericht zu verfolgen, seit er in den Norden gezogen war – die Wahrscheinlichkeit war sowieso sehr groß, dass er schlecht war.
»Er konnte aber auch ganz schön schwierig sein oder etwa nicht?«
»Ja … ja, manchmal. Manchmal.« Úlfur schaute erneut zum Himmel hoch.
Ari konnte der Versuchung nicht widerstehen: »Wie ich gehört habe, habt ihr euch am Freitag gestritten.« Er ließ die Äußerung stehen, als ob es nichts Selbstverständlicheres gäbe.
Úlfur schluckte den Köder.
»Was zum Teufel meinst du damit?«
Er machte Anstalten, um aufzustehen.
Die ersten Schneeflocken fielen; dick und federweich.
»Ist das hier ein verdammtes Verhör?«
Ari sagte nichts, lächelte lediglich und schaute die junge Frau an, damit er Úlfur nicht anschauen musste. Sie zeigte keinerlei Reaktion; war wohl kaum in den Hot Pot gekommen, um sich in den Zwist anderer Leute einzumischen.
Úlfur verschwand. Der Schnee fiel wie eine dicke weiße Dunkelheit. Ari atmete tief ein und versuchte, das Erstickungsgefühl loszuwerden.
22. Kapitel
Siglufjörður,
Montag, 12 . Januar 2009
Dicker Schnee verhüllte am Montagmorgen den Rathausplatz, es war noch nicht einmal sieben Uhr.
Pálmi Pálsson ging über den Platz und nickte Úlfur zu, der aus der entgegengesetzten Richtung kam. Úlfur war klein gewachsen und kräftig gebaut, mit einer feinen, runden Brille, die gut zu seinem Gesicht passte. Das Gesicht war aufgedunsen, und er hatte tiefe Ringe unter den Augen. Er nickte ebenfalls. Pálmi ging seines Weges, über den Platz und zur Brücke hinunter. Er hatte es sich angewöhnt, morgens dort spazieren zu gehen. Er hatte mit dieser Gewohnheit vor drei Jahren angefangen, als er sich von der Grundschule verabschiedet hatte. Die Lehrer und Schüler hatten ihm am letzten Schultag ein schönes Abschiedsfest bereitet. Es war ein Freitag gewesen, der letzte Schultag des Frühlingssemesters, und wahrscheinlich war der Frühling schon im ganzen Lande angekommen, außer in Siglufjörður. Die Berge waren noch immer schneeweiß. Es lag genug Schnee auf den Bergen, um deutlich zu machen, dass der Sommer noch weit entfernt war, aber dennoch zu wenig, als dass man sich mit den Skiern die Hänge hinabgleiten lassen könnte. Pálmi fuhr immer noch Ski, obwohl er bereits dreiundsiebzig Jahre war.
Dreiundsiebzig Jahre. Er konnte es kaum glauben. Die Gesundheit war bestens, und mehr noch betonten seine Bekannten und Freunde gerne, wie jung er doch aussähe.
»Du scheinst keinen Tag älter als sechzig zu sein, lieber Pálmi – wie machst du das bloß?«
Das Haar war zwar ergraut, aber dennoch respektvoll. Wenn er in den Spiegel schaute, sah er dagegen, dass er kein junges Lamm mehr war; die Adern traten hervor, er war sehr schmal im Gesicht, hatte beinahe eingefallene Wangen. Er war sehr dankbar für seine robuste Gesundheit, schien gute Gene von seinen Eltern mitbekommen zu haben. Seine Mutter war allerdings nicht älter als sechsundsechzig geworden. Hatte plötzlich einen Schlaganfall bekommen. Pálmi hatte sich in jüngeren Jahren davor gefürchtet, dass er denselben Weg gehen würde, dass ihn dasselbe Schicksal einholen könnte, doch diese Furcht hatte er schon längst überwunden. Er hatte bereits seit Jahrzehnten in der Grundschule unterrichtet, als seine Mutter im Sommer 1983 plötzlich verstarb. Sie hatte in einer alten Wohnung in der Innenstadt gewohnt und sich hartnäckig geweigert, zu Pálmi zu ziehen, der sich ein Haus in der Hvanneyrarbraut mit Aussicht über den Fjord gekauft hatte. Da wohnte er bis zum heutigen Tag.
Nein, diese guten Gene schienen von seinem Vater zu stammen, der zwar selbst kein langes Leben gehabt hatte, da er mit 24 Jahren an Tuberkulose gestorben war. Er hatte sich seinem Vater immer sehr nahe gefühlt, obwohl er sich nicht deutlich an ihn erinnern konnte. Er besaß einige wenige Fotos von seinen Eltern, die in den Jahren 1936 und 1937 aufgenommen worden waren und auf denen beide gemeinsam zu sehen waren. Das war kurz bevor sein Vater die Familie verlassen und beschlossen hatte, sich eines Besseren zu besinnen und seine Abenteuer in Dänemark zu suchen – Pálmi war damals gerade mal ein Jahr alt. Sein Vater hatte Frau und Sohn alleine in Siglufjörður zurückgelassen, aber dennoch hatte er bei seiner Mutter nie eine Verbitterung ihm gegenüber verspürt.
»Er brauchte seine Freiheit«
, hatte sie einmal gesagt. Ihre positive Einstellung hatte unwillkürlich zur Folge,
Weitere Kostenlose Bücher