Schneebraut
eigentlich nicht vorstellen, dass jemand ihm etwas Böses antun wollte, aber viele haben ihn nicht gemocht. Er war arrogant und konnte anstrengend sein, wenn er zu tief ins Glas geschaut hatte; er wollte über alle und alles verfügen. Ich kann mir vorstellen, dass er als Präsident des Theatervereins ein richtiger Tyrann war.« Sie zögerte. »Du entschuldigst, dass ich mit soviel Ehrlichkeit über einen toten Mann rede, aber ich will alles in meiner Macht Stehende tun, um dir zu helfen – falls ihn jemand denn gestoßen haben sollte.«
»Das verstehe ich nur zu gut.« Ari schwieg einen Moment, gab ihr Zeit, um weiter zu erzählen. »Eigentlich … da erinnere ich mich an eine Sache, die vielleicht eine Rolle spielen könnte. Er erzählte mir vor Weihnachten, daß er von einem Geheimnis Wind bekommen habe, ich glaube, dass er es so formuliert hatte, ja, irgendein Geheimnis. Einige in der Theatergruppe würden etwas verbergen. Er grinste breit, als er mir davon erzählte; schien zufrieden zu sein damit, ein Geheimnis in Erfahrung gebracht zu haben. Er war von Natur aus ein guter Beobachter, der Schlaumeier.«
»Ein Geheimnis?«
»Ja, ein Geheimnis.« Sie flüsterte beinahe.
»Weißt du, was für ein Geheimnis das war?«
»Tja … nicht genau. Aber ich hatte es so verstanden, dass … es vielleicht etwas … etwas …« Sie blinzelte ihm zu. »Du verstehst schon.«
»Ein Liebesabenteuer? Eine Affäre?«
»Genau. Vielleicht etwas in der Richtung.«
Ari kritzelte ein paar Bemerkungen in sein Notizbuch. Vielleicht war ja die eine oder andere Aussage der alten Dame doch noch zu gebrauchen.
»Glaubst du, dass er ein Testament verfasst hat?«
»Nein, das bezweifle ich. Er hat es zumindest mir gegenüber nie erwähnt. Ich habe auch keine Ahnung, ob irgendwelche nahen Verwandten von ihm noch am Leben sind; nur weit entfernte Verwandte – und er hat ganz bestimmt irgendwelche weltlichen Güter hinterlassen, wenn ich ihn richtig einschätze. Im Gegensatz zu mir; das Einzige, was ich besitze, ist diese gute Kommode hier.« Sie lachte kurz auf.
»Mir sind irgendwelche Geschichten zu Ohren gekommen, dass er ein Kind habe.«
»Ein Kind?« Ihre Augen verengten sich, sie schaute ihn verwundert an.
»Ja, dass Hrólfur nach dem Krieg Vater geworden sei.«
»Nein, so lieb mir die Wahrheit auch ist, das habe ich noch nie gehört. Wo hast du das denn aufgeschnappt?«
»Bei Pálmi … Pálmi Pálsson.«
»Ja, ich kenne ihn … natürlich. Hrólfur und er waren ganz gute Bekannte, also haben sie das vielleicht miteinander besprochen. Ich muss aber dennoch sagen, dass mich das überraschen würde. Aber so ist das nun mal, das Leben hält doch immer wieder eine Überraschung bereit. Der arme Tropf.«
»Hrólfur?«
»Nein, Pálmi – er hat seinen Vater so jung verloren, das war unglaublich schmerzlich. Sein Vater war etwas speziell; ein Künstler, es fiel ihm schwer, Wurzeln zu schlagen. Er verließ seine Frau und seinen kleinen Sohn, um nach Kopenhagen zu ziehen – holte sich dort die Tuberkulose und starb ganz rasch. Ich vermute nun, dass er auch ein paar Frauen dort kennengelernt hatte, er hatte viele Eisen im Feuer.«
»Eine alte Freundin von ihm aus Dänemark ist eben gerade dieser Tage bei Pálmi zu Besuch.«
»Nanu, das sind ja Neuigkeiten«, sagte Sandra und lächelte. »Das ist ja ein Ding. Pálmi ist danach ganz gut zurechtgekommen, der gute Kerl. Seine Mutter ist ja auch viel zu früh verstorben, mit fünf-oder sechsundsechzig; sie bekam einen Schlaganfall.« Dann fragte sie wie aus dem Nichts: »Isst du Hering?«
»Was, nein …«
»Das waren gute Jahre«, sagte sie mit verklärtem Gesicht. »Und früher wussten die Leute noch, wie man den Hering auf allerlei köstliche Art zubereiten kann.«
Sie lächelte. Den Blick in die Ferne gerichtet.
Ari schwieg.
»Ja, das waren gute Jahre«, wiederholte sie. »Ich habe dies hier immer bei mir, quasi als Sicherheit.« Sie beugte sich nach einem Buch auf der Kommode. Es war ein altes, gelbes Notizbuch, abgegriffen und offensichtlich sehr zerlesen. »Früher hat man ja keine Kochbücher gekauft, damals musste man jede Krone und Öre sparen. Ich habe alle guten Rezepte hier drin gesammelt.« Sie behandelte das Buch wie eine Kostbarkeit, öffnete es dann in der Mitte. »Sieh mal hier, mein Guter – hier sind die Heringsrezepte. Gerichte für die feinen Leute.«
Ari gelang es nur mit Mühe, den Text zu entziffern, die Buchstaben waren klein, die Schrift fein.
Sie
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