Schneebraut
mit Leib und Seele dabei, andere verhielten sich ruhiger und hatten mehr Interesse daran, abzuschalten und nur dabei zu sein. Ari erkannte das junge Mädchen, das den Gesang leitete, er konnte sich aus dem Theologiestudium an sie erinnern – er erkannte ihr Gesicht, hatte aber noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. Nun waren sie also beide in Siglufjörður im Norden gelandet – vermutlich machte sie ein Praktikum hier; er hatte sein Studium aufgegeben.
Der gestrige Tag war ruhig verlaufen; das Messer und ein paar andere Gegenstände aus der Wohnung von Linda und Karl waren bereits zur genaueren Analyse in den Süden geschickt worden. Ari hatte immer noch den Auftrag, verschiedene Informationen zusammenzutragen, die etwas zu den Ermittlungen in Sachen Todesfall von Hrólfur beitragen konnten. Die Neuigkeit, dass Hrólfur möglicherweise ein Kind hatte, war für Tómas eine Überraschung gewesen.
Ari stand in der Tür und lauschte dem Gesang. Die Krankenschwester, mit der er geredet hatte, fand es selbstverständlich, dass er mit Sandra sprechen konnte, hatte ihn aber darum gebeten, die Morgenandacht möglichst nicht zu stören. Sie hatte ihm die alte Dame im Rollstuhl gezeigt, die eine gehäkelte Decke um ihre Beine geschlungen hatte und mit Inbrunst mitsang.
Ari war sich ziemlich sicher, dass er den Glauben entweder an dem Tag verloren hatte, als sein Vater verschwand, oder später im selben Jahr, als er erfuhr, dass seine Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Auf jeden Fall glaubte er von da an an nichts mehr, außer an sich selber, obwohl es von Tag zu Tag schwankte, wie sehr er an sich selbst glaubte. Das Studium der Theologie hatte ihn später wieder etwas näher an das Allmächtige herangeführt, wenn auch auf entgegengesetzte Weise – wissenschaftliche Überlegungen, Kirchengeschichte, Religionsgeschichte, all das bestätigte ihn in dem Glauben, dass es kein Leben nach diesem Leben gab – keiner schaute auf ihn herab, keiner passte auf ihn auf, außer er selbst. Der Gesang hielt an, das Lied, das er früher so oft in der Sonntagsschule gesungen hatte. War dies das Schicksal, das ihn dazu zwingen würde, dieselben Psalmen wieder zu singen, wenn er im hohen Alter im Altersheim landen würde? Psalmen zu singen, ohne den Worten irgendeine Bedeutung abringen zu können.
Aris frühere Studienkollegin sprach ein kurzes Gebet und verkündete dann laut und deutlich, dass der Morgenkaffee bereitstehe für diejenigen, die Interesse daran hätten. Sandra hielt eine Tasse in der Hand, als Ari auf sie zuging und sich vorstellte. Er sprach laut und deutlich.
»Du brauchst nicht so laut zu reden, mein Guter, mein Gehör ist noch ganz in Ordnung. Es sind nur meine Beine, die nicht mehr so richtig wollen.« Sie lächelte. Ihr Gesicht war klein und mit feinen Gesichtszügen versehen; sie hatte eine dünne Stimme, sprach aber deutlich und klar. Sie nahm vorsichtig einen Schluck von ihrem Kaffee.
Ari hielt nach einem Stuhl Ausschau.
»Wir brauchen nicht hier sitzenzubleiben. Ich habe ein nettes Zimmer am Ende des Ganges. Kannst du mich dorthin fahren?«
Er schob den Rollstuhl langsam und ruhig vor sich her.
»Wie alt bist du, mein Freund?«
»Fünfundzwanzig.« Fügte dann hinzu: »Später in diesem Jahr.« Er konnte die alte Dame nicht einfach belügen, selbst wenn die Lüge harmlos war.
Sie waren in ihrem Zimmer angelangt, in dem es ein einfaches Bett, eine alte Kommode und einen kleinen Hocker gab. Auf der Kommode standen ein paar eingerahmte Fotos, einige waren farbig, andere in Schwarzweiß und ziemlich vergilbt. »Mein Mann«, sagte sie und deutete auf ein schwarzweißes Foto. »Meine Kinder und Enkelkinder auf den anderen Fotos. Ich habe in all den Jahren wirklich Glück gehabt.« Sie lächelte ein verschmitztes, aber feines Lächeln.
Ari setzte sich auf den Hocker, der neben dem Bett stand. »Sollen wir jemanden holen, um dir hineinzuhelfen?«
»Nein, das Glück sei mir hold, ich möchte lieber hier sitzen, solange es geht, und besonders, wenn ein so hübscher Mann zu Besuch ist.« Ari lächelte höflich, wollte sich direkt dem Thema widmen.
»Wie ist der Straßenzustand?«, fragte sie. »Hattest du keine Probleme, zu Fuß herzukommen?«
»Ich bin mit dem Wagen gekommen«, antwortete Ari. »Mit dem Geländewagen der Polizei.«
»Sag mir eins.« Sie schaute ihm mit einem ernsten Ausdruck in die Augen. »Warum besitzen alle so große Geländewagen hier im Dorf? Ich verstehe das einfach nicht.
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