Schneebraut
spielten, doch deren Spiel war irgendwie unbefangener, nicht so wie bei ihr. Als sie erwachsen wurde, fragte sie sich öfter, warum keiner etwas unternommen hatte, um ihr zu helfen. Warum hatte ihre Mutter, die selbst Opfer war, die Gewalt ignoriert? Nína hatte einmal versucht, sich über ihn zu beklagen; ihre Mutter hatte nicht darauf reagiert, hatte ihr gesagt, dass es furchtbar sei, anderen Leuten ins Gesicht zu lügen. Sie versuchte danach nie wieder, mit ihrer Mutter darüber zu reden.
Und warum hatten die Lehrer in der Schule nie etwas gesagt, wenn sie mit blauen Flecken in die Schule kam? Wenn sie zu Hause »umgefallen« war? Mit schöner Regelmäßigkeit. Warum unternahm keiner etwas, als sie nicht mehr mit ihren Schulkameraden reden wollte?
Das Einzige, was die Lehrer sagten, war, dass sie eine Konzentrationsschwäche habe und nicht lernfähig sei. Es lief schlecht für sie bei den Prüfungen. Sie glaubte deshalb lange, dass sie nicht begabt sei; sie war es gewohnt, den Lehrern zu glauben. Die Furcht vor den Büchern wuchs, und es war allen klar, dass sie es nie aufs Gymnasium schaffen würde und erst recht nicht ein Universitätsstudium aufnehmen könnte. Die Jugendjahre waren besonders schwierig, als sie in Siglufjörður zurückblieb, während die Gleichaltrigen nach und nach verschwanden, einige nach Reykjavík, andere nach Akureyri – einer spannenden Zukunft entgegen. Sie saß viele Stunden allein in ihrem Zimmer in der Dunkelheit und dachte über das alles nach. Selbst als
er
schließlich seines Gottes wegen, Bacchus, gestorben war. Zu guter Letzt hielt ihre Mutter die Belastung nicht mehr aus, ihre Tochter in der Dunkelheit sitzen zu sehen und kein Wort zu sprechen. Nína wurde in eine Anstalt in Reykjavík gebracht. Zwei Jahre ihres Lebens, die in dichten Nebel gehüllt sind. Sie erinnert sich nur noch daran, dass die Tage ineinanderflossen, ein jeder dem anderen glich. Ihre Mutter kam nie zu Besuch. Nína hat sie nie danach gefragt. Als sie schließlich nach Siglufjörður zurückkam, erfuhr sie, dass ihre Mutter allen erklärt hatte, dass sie zwei Jahre »im Süden bei Verwandten gewesen sei«. Nína wusste nicht genau, ob irgendjemand im Dorf die Wahrheit kannte, doch es war ihr egal.
***
»Es kursieren verschiedene Geschichten über Nína«, sagte Tómas nach der Beerdigung zu Ari. »Du solltest versuchen, beim Leichenmahl ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Sie war zwei Jahre lang verschwunden, als sie noch ziemlich jung war, wurde nach Reykjavík geschickt – ich erinnere mich daran, dass Mama mit ihren Freundinnen viel darüber geredet hat. Ihr Vater trank sehr viel, und sie ist von Natur aus sehr verschlossen.«
Ari überlegte, welche Geschichten wohl über ihn, den Pfarrer Ari, erzählt würden, wenn er wegzöge. Oder kursierten vielleicht jetzt bereits irgendwelche Geschichten über ihn? Geschichten über ihn und Ugla vielleicht? Er wäre bestimmt der Letzte, der davon erfahren würde.
Nína saß an einem kleinen Tisch im Gemeindesaal im oberen Stock der Kirche, aß von dem angebotenen Schmalzgebäck und trank Limonade aus einem Glas. Sie schaute über den Saal, zu Pálmi und Úlfur, die weiter hinten im Saal standen und miteinander redeten. Sie erschrak ein wenig, als Ari sich zu ihr setzte.
»Es ist nicht ganz ungefährlich, bei Glatteis unterwegs zu sein«, sagte er und deutete auf Nínas rechten Fuß, der eingegipst war.
Sie schaute ihn mit besorgter Miene an. »Ja, sehr gefährlich.«
»Man muss vorsichtig sein«, sagte Ari in leichtem Ton, wollte nicht direkt auf Hrólfur zu sprechen kommen. Er betrachtete die Gäste des Leichenschmauses. Keiner musste hungrig nach Hause gehen; die Tische bogen sich unter den köstlichsten Speisen; Sandwichtorten, Sahnetorten, Schmalzgebäck und Pfannkuchen.
Sie antwortete ihm nicht, beobachtete weiterhin die Trauergäste im Saal.
»Hast du oft mit Hrólfur gesprochen?«
»Wie bitte? Nein, er wies mich manchmal zurecht, das war eigentlich schon alles.« Sie hatte offensichtlich nichts dagegen, beim Leichenmahl des Verstorbenen schlecht über ihn zu reden.
»War er gebieterisch?«
»Ja, schwierig im Umgang, mit einigen – nicht mit allen. Entweder mochte er einen, oder er mochte einen nicht.« Das schien einfach eine Tatsache zu sein, die sie beschrieb, es schwang keine Reue oder Bitterkeit mit.
»Glaubst du, dass er dich nicht gemocht hat?«
»Ich glaube, dass er gar keine Meinung über mich gehabt hat. Das kommt auf das
Weitere Kostenlose Bücher