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Schneebraut

Schneebraut

Titel: Schneebraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ragnar Jónasson
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war er allein unterwegs, und er schien in Gedanken weit weg zu sein – als ob er am liebsten irgendwo ganz anders wäre. Vielleicht beim Schreinern. Nur nicht bei einer Beerdigung.
    Karl saß zwei Reihen weiter vor Ari, an der Seite von Anna. Ari würde beim Leichenmahl versuchen, ein Wort mit ihr zu wechseln – er hatte sich vorgenommen, mit allen zu reden, die an dem Abend auf der Probe gewesen waren.
Neidisch
. Das hatte Ugla über sie gesagt. Neidisch – enttäuscht darüber, dass sie die Hauptrolle nicht bekommen hatte. Ari wurde bewusst, dass er gerne Ugla in allem Glauben schenkte … sollte er ihren Aussagen gegenüber misstrauischer sein oder einfach dankbar sein, ein Mitglied des Theatervereins zu kennen; einen vertrauenswürdigen Berichterstatter?
    Die Kirche war beinahe voll, als die Trauerfeier begann. Es hatten vielleicht nicht alle den Autor persönlich gekannt, aber er schien zu guter Letzt doch seine Berühmtheit zurückerlangt zu haben, nach seinem unerwarteten Tod, alle, die etwas auf sich hielten, waren zur Beerdigung gekommen. Ari hatte gehört, dass sogar zwei ehemalige Minister hatten kommen wollen, um Hrólfur die letzte Ehre zu erweisen, doch das war am Straßenzustand gescheitert, der Weg nach Siglufjörður war beinahe unbefahrbar, und ein heftiger Sturm mit null Sicht auf dem Weg.
    Die Beerdigung war sehr feierlich, alte isländische Lieder erklangen zusammen mit den Klassikern der alten Meister, zudem wurde aus den
Lindagedichten
gelesen; die eindrückliche Altartafel von Gunnlaugur Blöndal im Hintergrund symbolisierte die Hoffnung, war aber zugleich auch ein Mahnmal für die Erbarmungslosigkeit des Meeres – der Ursache vieler Sorgen der Dorfbewohner all die Jahre hindurch. Die musikalische Begleitung zum Schluß war dramatisch, dennoch sah Ari niemanden eine Träne verdrücken.
    ***
    Das Leben von Nína Arnardóttir war kein Zuckerschlecken. Irgendwie war es ihr nie gelungen, im gleichen Takt wie ihre Zeitgenossen zu gehen – oder vielleicht war es denen ja nicht gelungen, sich ihrem Rhythmus anzupassen. Und nun war sie dabei, den Zug zu verpassen, sie spürte, wie die Jahre vorbeigerauscht waren, eines nach dem anderen; sie war stets allein, in ihrer kleinen, dunklen Wohnung. Sie fragte sich öfter, warum sie keine größeren Schritte gewagt hatte, dem Leben entgegen. Sie war schon oft verliebt gewesen, aber sie hatte nie direkt selbst etwas unternommen. Und doch – vielleicht dieses eine Mal, als es um die reine, wahre Liebe ging. Aber auch damals hatte sie letztendlich den Schritt nicht gewagt – hatte nur zu Hause im Dunkeln gesessen, im Schein einer kleinen Lampe gelesen oder ferngeschaut. Ja, die Jahre waren vergangen, und jetzt war sie auf einmal sechzig Jahre alt geworden.
    Im Augenblick hatte sie keinen festen Job, wohnte in einer Sozialwohnung, mit der Invalidenrente als einzigem Auskommen; arbeitete nebenbei als Freiwillige beim Theaterverein – das war überschaubar und angenehm, es war einfach, an der Theaterkasse zu arbeiten und einzelne Aufgaben zu übernehmen. Sie war nicht wirklich dafür geeignet, unter vielen Menschen zu sein, doch das ignorierte sie, als sie die Gelegenheit bekam, im Theater zu arbeiten.
    Nína hatte einen eigenartigen Körperwuchs, war etwas korpulent und grob gebaut. Sie wusste, dass sie für ihr Alter immer noch ziemlich stark war – in der Schule war sie wegen ihres Äußeren damals die Zielscheibe des Spotts gewesen. Und dennoch hatte sie sich nie gewehrt, wenn er sie schlug – hatte nie gewagt, anders zu reagieren, als die Arme schützend um den Kopf zu legen und die Schläge zu ertragen. Viel schlimmer war, als er mit der Prügelei aufhörte, da erst verspürte sie die eigentliche Angst – manchmal legte er sich auf das Sofa, blieb in seinem Alkoholrausch liegen, manchmal aber beruhigte er sich, hörte auf, die Schläge auf sie herunterprasseln zu lassen und begann stattdessen, zudringlich zu werden. Dann schloss sie die Augen und versuchte, in die Dunkelheit zu verschwinden. In diesen Jahren fühlte sie sich tatsächlich stets in der Dunkelheit am wohlsten, unter dem Bett oder im Schrank, da, wo sie wenigstens in Ruhe gelassen wurde – dorthin verschwand sie, wenn sie ihn hörte, sie kannte den Alkoholgeruch, das Klirren der Gläser und Flaschen. Sie hatte herausgefunden, wann es für sie am besten war, die Flucht zu ergreifen – Verstecken zu spielen. Sie wusste, dass die anderen Kinder in der Schule auch manchmal Verstecken

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