Schneebraut
Gute.« Er zögerte und fügte dann hinzu: »Und dann gibt es da natürlich dieses Mädchen.«
»Mädchen?«
»Ja, Ugla.«
Ari zuckte ein wenig zusammen; er spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er versuchte, Pálmi nicht direkt in die Augen zu schauen, da er befürchtete, dass sein Blick ihn verraten könnte.
»Ugla, ja – genau.« Er musste in der Sache irgendwie nachhaken, um den möglichen Verdacht zu zerschlagen, dass er Ugla besser kenne, als es natürlich wäre. »Haben sie sich oft getroffen?«
»Ich glaube schon – sie hatte bei ihm die Kellerwohnung gemietet, kam aber immer noch regelmäßig zu Besuch, nachdem sie dort ausgezogen war. Sie wohnt jetzt …«, Pálmi dachte nach und sagte dann, »… ja, in der Norðurgata, wenn ich mich richtig erinnere.«
»Passt genau«, rutschte es Ari heraus.
Verdammt
.
Pálmi dagegen schien nichts zu bemerken; er wollte Ari offensichtlich einfach nur so schnell wie möglich loswerden.
Es wurde leise an die Tür geklopft, und eine hochbetagte Dame erschien in der Tür des Wohnzimmers. Ein großgewachsener, bärtiger Mann stand hinter ihr; er sprach Dänisch.
»Das ist Rósa, und Mads, ihr Sohn. Ari ist von der Polizei.«
Ari stand auf und grüßte sie. Er sprach Englisch; machte sich nicht die Mühe, Dänisch zu sprechen, obwohl er sich beim Lesen einigermaßen durchschlagen konnte. Die alte Dame ergriff dann für sie beide das Wort; sie sprach ein gutes Englisch, wenn auch mit einem starken dänischen Akzent. Mads stand hinter ihr und hielt sich im Hintergrund.
»Was hat Pálmi denn verbrochen?«, fragte sie mit ernster Miene und schaute Ari tief in die Augen. Sie strahlte viel Wärme aus.
Ari lächelte: »Gar nichts. Überhaupt gar nichts. Wir sind dabei, den Tod des Schriftstellers Hrólfur Kristjánsson zu untersuchen. Er fiel während einer Theaterprobe letzten Freitag hin und verstarb.«
»Ja, ich habe davon gehört, Pálmi hat es uns erzählt. Wir wollten uns nämlich am Wochenende eigentlich die Vorstellung ansehen«, sagte sie. »Ich habe Hrólfur vor langer Zeit einmal in Kopenhagen getroffen. Sie waren Freunde, dein Vater und er, nicht wahr?« Sie schaute Pálmi an.
»Bekannte«, sagte Pálmi. »Sie waren zur selben Zeit in Dänemark.«
Die alte Dame wandte sich erneut an Ari. »Ja, er war ein hübscher junger Mann, der Hrólfur, wenn ich mich richtig erinnere. Er war bestimmt oft bei Páll, dem Vater von Pálmi, als der im Sterben lag – ich glaube, dass Páll zu der Zeit in Dänemark nicht viele Leute gekannt hat. Es kann sehr einsam sein, allein in einem fremden Land zu sein.« Sie schaute Pálmi an: »Ich hoffe doch sehr, dass ich ihm das Leben etwas erträglicher gemacht habe in den Monaten, in denen wir zusammen waren.« Sie lächelte. »Ich habe Hrólfur damals im Krankenhaus getroffen, ich hatte Páll seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen – ich musste mit der Familie zum Arbeiten aufs Land fahren. Als ich von seiner Krankheit erfuhr, kam ich zurück, doch da war seine Krankheit schon weit fortgeschritten – ich habe es nicht über mich gebracht, mich von ihm zu verabschieden.« Eine winzige Träne rann über ihre runzlige Wange.
»Untersucht ihr seinen Tod also als … als Verbrechen?«, fragte Pálmi auf Isländisch.
»Ja.« Ari war im Auftrag von Tómas hier – in offizieller Funktion –, also war das wohl die natürlichste Antwort.
Pálmi dachte nach, schien sich nicht sicher zu sein, ob er noch etwas hinzufügen sollte, sagte dann aber, mit beschämten Augen, als würde er ein gutgehütetes Geheimnis preisgeben: »Es gibt da vielleicht noch eine Sache, die du wissen solltest.« Er machte eine Pause, und das Schweigen stellte Aris Neugier auf eine harte Zerreißprobe, die sogar Rósa wahrzunehmen schien, obwohl das Gespräch auf Isländisch stattfand. Mads stand ruhig da, mit uninteressiertem Gesichtsausdruck, und musterte eines der Gemälde von Kjarval.
»Ich habe mal von einem Gerücht gehört, dass … dass Hrólfur ein Kind habe, ein illegitimes natürlich – er war ja nie verheiratet –, ein Kind, das während der Kriegsjahre, vielleicht aber auch später geboren wurde. Da hatte er Dänemark schon wieder verlassen. Der Sache solltest du mal nachgehen.«
28. Kapitel
Siglufjörður,
Freitag, 16 . Januar 2009
»Oh Jesus, mein bester Bruder.« Der Gesang hallte im Saal nach. Diejenigen Bewohner des Altersheimes, die fit genug waren, um an der Morgenandacht teilzunehmen, hatten sich dort versammelt. Einige waren
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