Schneebraut
war es sehr wahrscheinlich, dass sie vergaß, was der Begriff
schlechtes Gewissen
eigentlich bedeutete.
Mehr noch, gerade jetzt, direkt nach der Beerdigung, konnte sie ihm einfach nicht widerstehen. Er hatte ihr am Ende der Trauerfeier so tief in die Augen geschaut, ihr so zärtlich ins Ohr geflüstert.
»Nicht am helllichten Tag, nicht jetzt – man könnte uns sehen«, sagte sie, doch der Widerstand war nicht überzeugend; sie hätte ebenso gut sagen können: »Auf wen warten wir eigentlich?« Sie wusste genau, dass es nicht das Timing war, das am schlimmsten wog, es spielte im Grunde genommen keine Rolle, ob es mitten am Tag war oder im direkten Anschluss an die Trauerfeier eines Mannes, den sie beide nicht besonders gemocht hatten. Nein – das, was unverzeihlich war, war die Tatsache, dass sie nicht nein gesagt hatte im Hinblick darauf, was seiner Frau zugestoßen war.
»Wirst du einfach so dastehen?«, fragte er. Die Stimme war bestimmt, aber dennoch weich, es lag etwas Verführerisches in seinem Ton, das sie jedes Mal zum Schmelzen brachte.
»Aber was ist mit Linda? Das ist … das ist so falsch, während sie bewusstlos im Krankenhaus in Reykjavík liegt.«
»Hab dich mal nicht so. Du weißt, dass die Beziehung zwischen Linda und mir schon lange zu Ende ist.«
»Aber sie ist trotzdem deine Frau – und sie schwebt vermutlich immer noch in Lebensgefahr.«
»Ich kann nichts tun. Die Polizei hat mir zudem verboten, in den Süden zu fahren.« Dann fügte er hinzu: »Schließlich habe nicht ich sie angefallen.«
Nein, hoffentlich nicht
. Sie hatte allerdings einzig und allein sein Wort als Garantie.
»Ich habe sie nicht angegriffen«, wiederholte Karl. »Das weißt du doch, nicht wahr?«
Anna schaute ihn an. Sie wollte ihm ja glauben, doch sie war sich nicht sicher. Er durfte nicht sehen, dass sie zweifelte.
»Selbstverständlich, Liebster. Selbstverständlich. Natürlich weiß ich das.«
Sie wollte ihn am liebsten bitten, zu gehen, doch es war zu aufregend – so unglaublich unpassend in jeder Hinsicht, dass sie der Versuchung nicht widerstehen konnte und zu ihm unter die Decke schlüpfte.
Es hätte nicht weniger als das Ende der Welt bedeutet, wenn jemand dahintergekommen wäre. Was für eine Art von Mensch war eigentlich aus ihr geworden? Was würden ihre Eltern sagen? Was würden die Dorfbewohner sagen? Karl würde das Geschwätz wohl kaum stören, er würde einfach aus dem Dorf wegziehen – vielleicht wieder nach Dänemark. Sie selbst besaß kein anderes Zuhause als Siglufjörður, und nun hegte sie sogar noch die große Hoffnung, den zukünftigen Job an der Grundschule zu bekommen. Sie ignorierte das alles – es war wie beim russischen Roulette –, all das setzte sie aufs Spiel für ein wenig Spaß mit Kalli. Immerhin konnte sie ihm soweit vertrauen, dass er den Mund halten würde.
Wusste sie eigentlich etwas über ihn? Sie wußte zwar, dass er viel zu alt für sie war, dreiundvierzig im Sommer – sie war erst vierundzwanzig. Vierundzwanzig – sie war sich darüber bewusst geworden, als der Pfarrer den Lebenslauf von Hrólfur verlesen hatte, dass Hrólfur eben genau vierundzwanzig Jahre alt war, als sein Meisterwerk herausgekommen war – genauso alt, wie sie jetzt war, fertig damit, mit der größten Leistung seines Lebens. Ihre größte Leistung war es, das Studium beendet und eine Affäre mit dem Mann einer anderen Frau begonnen zu haben.
Ja, Kalli war eigentlich viel zu alt für sie – und doch wusste sie, dass ihre Freundinnen im Süden zum Teil Partner in diesem Alter hatten, oder sogar noch ältere. Doch eine Affäre war eine gänzlich andere Situation.
Wie zum Teufel war sie da nur hineingerutscht?
Das Telefon klingelte, Karls Handy. Er schaute nicht einmal auf.
»Vielleicht sind das Nachrichten von Linda, willst du nicht antworten?«
»Nicht jetzt, Liebling – wir sind beschäftigt.«
Wie konnte sie eigentlich von einem Mann angetan sein, der so kaltherzig reagierte, wenn es um seine Frau ging?
Es klingelte erneut, dieses Mal war es ihr Handy.
Sie streckte sich nach ihrem Handy, das auf dem Nachttisch lag.
»Nicht antworten, Liebling.«
»Hallo, Anna hier.« Schweigen. »In Ordnung, ich komme.« Erneutes Schweigen. »Nein, ich habe ihn nicht gesehen.«
»Das war Úlfur«, sagte sie nach Beendigung des Gesprächs. »Wir werden uns nachher im Kino treffen, um die Lage zu besprechen. Er hat mich gefragt, ob ich dich gesehen habe – er habe uns beim Leichenmahl nicht
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