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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marten t Hart
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vertiefte. Die Sockenstrickmaschine schien für ihn keine Geheimnisse zu besitzen. Aufmerksam studierte er die beiliegende Gebrauchsanleitung. Danach strickte er aus der aufgeribbelten Wolle eines Pullovers seiner Schwester ruck, zuck zwei himmelblaue Probesocken für mich.
    Im 18. Jahrhundert fuhren die Maassluiser Fischer nach Island. Sie nahmen Branntwein und Tabak mit, um diese Waren, obwohl das von den Reedern nicht gerne gesehen wurde, gegen Socken einzutauschen, welche die Isländer in der grauen Winterzeit bei Trankerzenlicht gestrickt hatten. Noch in meiner Kinderzeit hörte ich des Öfteren: Ach ja, die unverwüstlichen Islandsocken, die Qualität sieht man heute nirgendwo mehr. Nun ja, Jouris Socken erwarben sich sehr bald das Prädikat »Islandqualität«. Mit seinen Produkten rettete er die Kerkmeesters. Jouri brachte seinen Schwestern bei, wie sie die Maschine bedienen mussten, er zeigte es mir, denn ich war ganz heiß darauf, und er instruierte auch seine Mutter.
    Trotz der nun größeren Fertigkeit der übrigen Familienmitglieder waren Jouris Socken von höherer Qualität als alle anderen. Sie passten genauer, sie umschlossen den Fuß, die Ferse und den Spann besser, kurzum, sie waren perfekt. Sogar für die Klumpfüße von Nachbar Stalin strickte er passgenaue Klumpfußsocken, die den Greis auf seine alten Tage mit neuer Lebenslust erfüllten. Ich konnte es nicht begreifen: Dieselbe Maschine und dieselbe Wolle, aber dennoch erreichten Jouris Socken einen Standard, an den wir nicht einmal tippen konnten. Jouri konnte sogar, falls gewünscht, eine Verzierung in das Bündchen oder den Fuß einstricken, und es gab kaum einen Kunden, der das nicht wollte, denn sie waren alle Nachfahren jener Maassluiser Fischer, die auch seinerzeit die Isländer darum gebeten hatten, farbige Muster in die Socken zu stricken, dort, wo die Fußknöchel sind.
    Auch dank der vielfarbigen Verzierungen übertraf die Nachfrage nach Jouris Socken schon bald das zwangsläufig beschränkte Angebot. Ehe Jouri sich überarbeitete, möbelte sein Vater das Fahrrad von Nachbar Stalin auf. Natürlich hieß der Nachbar nicht wirklich so, aber er ähnelte dem russischen Tyrannen derart, dass ein jeder ihn schlicht Josef Stalin nannte, obwohl der Doppelgänger jedes Mal zusammenzuckte.
    Anfangs wollte Stalin nichts mit den neuen Nachbarn zu tun haben, doch als er einmal mit Grippe im Bett lag und niemand sich um ihn kümmerte, da brachte Jouris Mutter ihm einen Topf Erbsensuppe. Wieder genesen, meinte Josef, er könnte, wie seinerzeit Stalin selbst, einen Pakt mit den Nazis schließen. In der Praxis sah das so aus, dass er ab und zu auf ein Schwätzchen in die Werkstatt kam. Na ja, Schwätzchen, Stalin war ebenso schweigsam wie meine Mutter und Jouris Vater, der durch seine Haft nach dem Krieg so verbittert war, dass auch er nur selten den Mund aufmachte. Letztendlich begrüßten sie einander nur. Anschließend schlenderte Josef durch die Werkstatt, hob hier und da eine Mutter auf, versuchte eine passende Schraube zu finden, drehte die Schraube ein paar Schläge fest, legte dann die nun zusammengefügten Teile wieder hin und begab sich summend auf den Weg ins Nachbarhaus. Ehe er die Werkstatt verließ, beugte er sich allerdings jedes Mal noch zu Schorrie hinab, um dessen Heilhitlerohr nach hinten zu falten.
    Josef Stalin hatte ein Vorkriegsfahrrad, ein traurig aussehendes Stück Eisen mit doppelter Stange und einem zwischen diesen Stangen hin und her schaukelnden Schild, auf dem früher wahrscheinlich einmal ein Firmenname gestanden hatte. Schon von Weitem konnte man Stalins Rad hören, auch wenn daran, anders als bei den oft noch mit Holzklötzen auf den Pedalen versehenen Rädern der Maassluiser Kinder, keine Wäscheklammern an den Schutzblechen befestigt waren, um die Speichen ordentlich klappern zu lassen.
    Als Stalin wieder einmal Schrauben und Muttern zusammensuchte, sagte Jo Kerkmeester: »Soll ich dein Rad mal aufmöbeln? Ich hab sowieso nichts zu tun.«
    »Ich brauch mein Rad jeden Tag«, erwiderte Josef.
    »Dann bring ich es in der Nacht auf Vordermann«, schlug Jo vor.
    Als Josef Stalin auf seinem überholten Fahrrad durch die Stadt fuhr, trauten wir unseren Augen nicht. Man hätte meinen können, er säße auf einem nagelneuen Rad der Marke Fonger.
    »Allein schon die feinen doppelten Goldstreifen auf dem Rahmen«, hörte man hier und da jemanden seufzen.
    Auch Vlielander möbelte Fahrräder auf. Man brachte ein Wrack hin und

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