Schneeflockenbaum (epub)
hauende Schwert in einem seltsamen Licht. Hatte Jouri recht mit seiner Bemerkung, es sei höchst merkwürdig, dass es im Himmel, diesem Bollwerk des Friedens und der Glückseligkeit mit Straßen aus Gold, offenbar bereits Waffen gab, die auf der Erde erst noch erfunden werden mussten?
Wir gingen durch den Lijndraaierssteeg, erreichten die Brücke über den Zuidvliet und gelangten dann in das ausgedehnte Viertel mit den für unbewohnbar erklärten Häusern.
»Bringst du mich nach Hause?«, fragte Ria fröhlich.
»Darf ich?«
»Ich find’s prima«, antwortete sie.
Wir bogen ab, in die Sandelijnstraat. Am Ende der langen Straße kamen wir in die St. Aagtenstraat, die immer ’t Paard z’n Bek genannt wurde.
»Kommst du noch kurz mit rein?«, fragte Ria.
»Gern«, antwortete ich.
Als wir ins Haus kamen, stellten wir fest, dass ihre Mutter nicht da war. Ria sah mich mit funkelnden Augen an und fragte: »Willst du mich küssen?«
Mich überraschte diese Bitte. Von etwelchen Verhaltensmustern aus dem recht eintönigen, bemerkenswert vorhersagbaren und, im Vergleich etwa zum Haubentaucher, armseligen Ethogramm des menschlichen Balzverhaltens hatte ich damals noch keine Ahnung. Weil Ria mich jedoch erwartungsvoll ansah, nickte ich vorsichtig mit dem Kopf.
»Für fünf Cent«, sagte sie.
Weil ich keinerlei Verlangen spürte, sie, gleich wo, mit meinen Lippen zu berühren, dachte ich, sie wolle mir fünf Cent für einen Kuss geben, weil sie sich danach sehnte. Fünf Cent waren damals für mich ein Vermögen. Diesmal nickte ich also schon freudiger.
»Für zehn Cent darfst du auch ein bisschen anfassen.«
Erst jetzt wurde mir klar, dass ich bezahlen sollte.
»Ich habe kein Geld dabei«, sagte ich. »Ich habe nie Geld dabei.«
»Aber du bekommst doch bestimmt Taschengeld von deinem Vater?«
»Fünf Cent. Samstags um ein Uhr.«
»So wenig? Oh, darum, dann kannst du mich natürlich nicht bezahlen. Tja, schade.«
»Ich gehe jetzt lieber nach Hause«, sagte ich.
»Na, dann tschüs«, erwiderte sie.
Obwohl ich nicht über Geld verfügte, um sie für einen Kuss zu bezahlen, fragte sie mich am nächsten Tag nach der Schule: »Bringst du mich wieder nach Hause?«
Unterwegs sagte sie: »Trag doch Zeitungen aus. Damit verdienst du Geld, und dann darfst du mich küssen. Und für zehn Cent darfst du auch anfassen.«
Offenbar ging sie davon aus, dass ich eines Tages vermögend genug sein würde, sie zu bezahlen, denn auch am Tag darauf durfte ich sie nach Hause begleiten. Weil ich sie vor der ewigen Verdammnis retten wollte, brachte ich sie schweigend nach Hause, wobei ich mich, je näher wir der Hoekerdwaarsstraat kamen, immer mehr fragte, wie ich ihr die frohe Botschaft ebenso knapp wie effektiv verkünden sollte. Inzwischen verbreitete sich in unserer Klasse bereits die frohe Mär, dass Ria und ich miteinander gingen.
Nachdem ich so eine Woche lang mit ihr zusammen gewesen war, hielt Jouri den Moment für gekommen, mich vor ihr zu warnen.
»Weißt du, warum sie von der Prins-Bernhard-Schule geflogen ist?«
»Nein«, antwortete ich.
»Weil sie allen Jungs den Kopf verdreht und ihnen dann gesagt hat, dass sie sie für zehn Cent anfassen dürften.«
Dass sie mir das gleiche Angebot unterbreitet hatte, verschwieg ich. Weil dieses Angebot damals für mich noch vollkommen unverständlich war, konnte ich darin nichts Falsches entdecken. Zu Jouri sagte ich nur: »Sie weiß, dass ich kein Geld habe.«
»Pass bloß auf. Nachher verliebst du dich in sie und fängst zu sparen an.«
»Sparen? Wovon?«
»Von deinem Taschengeld.«
Darauf erwiderte ich nichts. Es war zwar vorstellbar, dass ich die samstägliche Fünf-Cent-Münze aufbewahrte, um mit dem Taschengeld der Woche darauf zehn Cent zu haben, dass ich aber anschließend mein Erspartes Ria gab, »um ein bisschen anzufassen«, war so vollkommen undenkbar, dass ich nicht das geringste Bedürfnis hatte, Jouri darüber Auskunft zu geben. Schon der Ausdruck »anfassen« sagte mir nichts. Anfassen? Wo denn? Und wozu überhaupt?
So ging ich ein Dutzend Tage nach der Schule neben ihr her, über zwei Brücken, durch die Hoekerdwaarsstraat, die ganze Sandelijnstraat entlang bis ganz hinten in ’t Paard z’n Bek. Jeden Dienstag wurde unsere Klasse aufgeteilt. Die Mädchen lernten von drei bis vier nützliche Handarbeiten, während wir Jungen mit den Grundprinzipien der Buchhaltung vertraut gemacht wurden. Ich sehe es noch haargenau vor mir, wie wir an jenem Dienstag zur
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