Schneeflockenbaum (epub)
watscheln, lustwandeln, promenieren, stapfen.«
»Und wetzen, Herr Lehrer, das sagt man auf Goeree-Overflakkee.«
»Wunderbar, wetzen, das kommt mit auf die Liste. Bestimmt gibt es noch andere Wörter, die uns jetzt gerade nicht einfallen.«
»Aber promenieren ist doch nicht dasselbe wie stapfen, Herr Lehrer«, wandte ich ein.
»Was ist der Unterschied? Was ist der Unterschied zwischen rennen und laufen? Warum gibt es zwei Wörter für die schnelle Fortbewegung zu Fuß? Was ist der Unterschied zwischen schlendern und flanieren? Warum ist die Sprache so erstaunlich verschwenderisch?«
»Stolpern ist etwas anderes als wandern.«
»Gewiss, aber in beiden Fällen setzt man einen Fuß vor den anderen. Mehr als ein Dutzend Wörter für ein und dieselbe Tätigkeit, die, ob sie nun schnell oder langsam ausgeführt wird, im Prinzip immer die gleiche ist: zuerst den einen Fuß nach vorne setzen, dann den anderen. Oh, oh, die Sprache, welch eine Verschwendung! So viele Wörter, das ist überflüssiger Luxus.«
Obwohl ich stolz darauf war, nun Englischunterricht zu erhalten, bedauerte ich andererseits, dass ich jetzt nach vier Uhr kaum noch Zeit hatte, bei Jouris Vater in der Werkstatt zu sein. Und auch Jouris Vater war darüber alles andere als begeistert. Jedenfalls wenn ich Jouri glauben durfte. Erst als wir bereits einige Jahre studierten, hat er dazu einmal gesagt: »Du ahnst nicht mal ansatzweise, wie viel es meinem Vater, den man überall nur mit dem Hintern angesehen hat, bedeutete, dass so ein Bürschchen wie du nach vier immer zu ihm kam, um Platten zu hören. Er hat, das kann ich jetzt ruhig sagen, extra dafür Schallplatten gekauft. Die musste er sich regelrecht vom Munde absparen, aber er dachte: Dem Bürschchen wird ... komm, nenn mal ein Stück ... ich kenne mich da nicht aus. Mich interessiert klassische Musik nicht die Bohne.«
»Wie schade! Das ist fast ein Grund, dir die Freundschaft aufzukündigen.«
»Damit kommst du aber ein bisschen spät. Das hättest du in den Tagen von Lehrer Passchier tun müssen. Aber gut, wir sprachen von etwas anderem. Was ich dir erzählen wollte, ist, dass er damals extra eine Platte gekauft hat, von der er annahm, er könnte damit bei dir punkten. Und du fandest all dieses steife Zeugs wunderbar, wenn es nur von einem Haufen Geigen, von einem ganzen Orchester gespielt wurde und einigermaßen angenehm klang, und mit dieser Platte, die er damals extra für dich gekauft hat, hat er tatsächlich einen riesigen Treffer gelandet. Den ganzen Abend über war er allerbester Laune, wir wussten gar nicht, was los war ... Tja, welche Platte war das bloß ... auf der Hülle waren tanzende Bauernmädchen in langen karierten Röcken zu sehen ... komm, du erinnerst dich bestimmt noch daran, welche Platte ...
»Dvořák«, sagte ich, »die Neunte . Damals nannte man sie noch die Fünfte . Aus der Neuen Welt . Mensch, hat er die wirklich extra für mich gekauft?«
»Einzig und allein für dich«, sagte Jouri feierlich.
»Und wie die Musik klang, dort in der Werkstatt, inmitten der vielen verschiedenen Solex-Modelle, der Pfefferdos, der OTO! Dvořák, und währenddessen sucht dein Vater die ganze Zeit nach einer Kolbenbolzensicherung.«
Ich summte das Hauptthema der Neunten .
»Da siehst du’s«, sagte Jouri, »bei solch einer netten, frivolen Melodie, da wirst du schwach. Volkstänze auf Holzschuhen um die Dorfpumpe herum.«
»Klotzloch«, sagte ich.
»Was ’n das?«
»Eine Kreuzung aus Klotzkopf und Arschloch«, erklärte ich.
»Wozu Biologen heute fähig sind! Es fehlt nicht viel, und sie klonen zufällig Prionen, die die Menschheit auslöschen.«
Haargenau kehrte die Erinnerung an jenen Nachmittag zurück, an dem ich zum ersten Mal die Neunte gehört hatte. Zwischen den Werkbänken wuselte hechelnd das Kerkmeesterhündchen mit seinem Heilhitlerohr herum. Habe ich bereits damals, beim ersten Hören, Dvořák in mein Herz geschlossen? Oder brauchte ich mehrere Hördurchgänge, ehe ich hin und weg war? So viel steht fest: Schon damals wurde der Keim gelegt für eine tiefe, große, warme Liebe für den wunderlichen, frommen katholischen Metzgerssohn aus Nelahozeves mit seinem einmaligen Talent für warmherzige Melodien.
Eine Woche lang hatten wir diesen Dvořák, nach vier, zweimal laufen lassen. Am Ende der Woche bemerkte Jo Kerkmeester ganz nebenbei: »Da siehst du’s, die Tschechoslowakei. Schönes Land, mit phantastischen Komponisten, Dvořák, und da gibt es noch
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