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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marten t Hart
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Schule hinausstürmten. Von den handarbeitenden Mädchen war noch nichts zu sehen. In null Komma nichts waren alle Jungs verschwunden, und der verlassene Schulhof flimmerte wieder in der Nachmittagssonne. Ich blieb und wartete auf Ria.
    Ich hörte Schritte. Jouri, der auch losgelaufen war, kehrte durch die Lange Bonestraat zurück, gesellte sich zu mir und fragte: »Wartest du auf Ria?«
    »Ja«, erwiderte ich.
    »Pass bloß auf«, sagte er, »nachher gibst du ihr noch dein Taschengeld.«
    »Quatsch nicht«, entgegnete ich.
    Gesittet verließen die Mädchen das Schulgebäude. Ria kam auf mich zu, und ich machte Anstalten, sie zu begleiten.
    Jouri sah sie an und sagte ganz ruhig: »Heute werde ich dich nach Hause bringen.«
    »Das ist prima«, erwiderte sie erfreut und spazierte an seiner Seite vom Schulhof. Einmal schaute sie sich noch um, mit triumphierendem Blick, und ich stand da und war total verdattert. Als sie an den Büros der Vereinigten Seilfabriken in der Lange Bonestraat vorbeikamen, nahm Jouri ihre Hand, und sie ließ es zu. Seelenruhig schlendernd, verschwanden sie, in die Nauwe Koestraat einbiegend, Hand in Hand aus meinem Blickfeld.
    Als ich am Nachmittag des nächsten Tages auf sie wartete, sagte Ria mit leuchtenden Augen zu mir: »Von heute an bringt Jouri mich nach Hause.«
    Es war keine Tragödie. Ich litt kaum. Ich glaube, ich war sogar einigermaßen erleichtert. Ich war der schweren Aufgabe, sie zu bekehren, entledigt. Irgendwann habe ich Jouri eröffnet, dass ihm nun die Aufgabe zugefallen sei, Ria Dons das Evangelium zu lehren. Daraufhin sagte er: »Das Evangelium ...? Ich? Das wird wohl nicht gehen, denn wir küssen uns die ganze Zeit. Und anfassen darf ich auch schon ein bisschen.«
    »Wo kriegst du all das Geld her?«, fragte ich erstaunt.
    »Ich muss nicht bezahlen«, sagte er in aller Gemütsruhe.

Der Teufelspakt
    R ia Dons verursachte vorerst keine Entfremdung zwischen Jouri und mir. Durch den Plattenspieler entstand allerdings ein kleiner Riss in unserem Teufelspakt, wie Lehrer Splunter unsere Freundschaft jedes Mal missbilligend nannte. Jouri teilte weder meine Liebe für das »verdammt schöne Stück« noch die für alles, was aus den Rillen der 33er-Platten mit Music for the Millions erklang. Das hätte mich mehr betrübt, wenn ich im Hause Kerkmeester keinen einzigen Verbündeten gehabt hätte. Zum Glück aber hatte sein Vater in Sachen Musik die gleichen Empfindungen wie ich – oder ich die gleichen wie sein Vater, je nachdem, wie man es betrachten will. Und selbst wenn die Musik eine mögliche Bruchstelle war, so schweißte der Widerstand, den wir in der Schule erfuhren, uns nur umso fester zusammen.
    Als wir in die vierte Klasse kamen, ließen wir den klimpernden Splunter hinter uns, und Herr Passchier wurde unser Lehrer. Der behandelte Jouri und mich ebenfalls wie Zwillingsbrüder. Von Missbilligung konnte allerdings keine Rede sein. Auch von einem Teufelspakt sprach er nie; wohl aber von einem Überfliegerpakt. Er behandelte uns mit großem Respekt und wiederholte leider immer wieder, dass wir Wunderknaben unsere Mitschüler, die er verächtlich als Dummschnute und Hohlköpfe titulierte, bei Weitem überragten. Das nahm man uns ziemlich übel. Vor neun Uhr, in den Pausen und vor allem nach vier mussten wir oft um unser Leben rennen.
    Nachdem Lehrer Passchier unsere Flucht einmal beobachtet hatte, sagte er: »Bleibt nach dem Unterricht hier, dann geht ihr den Holzköpfen aus dem Weg, und ich gebe euch ein halbes Stündchen Englischunterricht.«
    Und so paukten wir, während der mit Koks geheizte große Ofen hinten in der Klasse langsam erlosch, die Anfangsgründe der englischen Sprache. Ob wir dafür, gerade mal zehn Jahre alt, schon reif waren, ist eine andere Frage, denn woran ich mich in erster Linie erinnere, ist, dass wir ziemlich absurde Fragen stellten. Ich wollte wissen, ob es im Englischen auch so viele Wörter für »Stuhlgang« gibt. Gab es ebenso viele Synonyme für Kot, Scheiße, Kacke, Wurst, Dreck, Haufen?
    »Natürlich«, sagte Lehrer Passchier leutselig, und er zählte verschmitzt auf: »Poop, crap, dung, filth, much, turd.« Dann sagte er: »Ach, Jungs, die Sprache ist so reich, so verschwenderisch. Oft gibt es unglaublich viele Ausdrücke für eine Handlung oder ein Objekt. Nehmt nur einmal das Wort ›gehen‹. Was es da nicht alles an Synonymen gibt: marschieren, schreiten, schlendern, wandern, stolpern, rennen, hasten, trödeln, flanieren, umherschweifen,

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