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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marten t Hart
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an. Er fragte: »Wie ist das möglich? So plötzlich?«
    »Plötzlich? Nein, nein, nicht plötzlich. Immer wenn ich Dienst hatte, kam sie, um neue Bücher auszuleihen. Sie fragte mich, ob wir auch Bücher über Musik hätten. Für ihren Bruder. Der sei total verrückt nach Beethoven und wolle jetzt etwas über ihn lesen. Daraufhin sagte ich, dass auch ich Beethoven zutiefst verehre, und sie meinte: ›Dann komm doch mal mit zu uns nach Hause, dann spielt mein Bruder dir Schallplatten vor.‹«
    Als ich stolz neben Frederica her über den Schulhof radelte und in den Rotterdamseweg einbog, bemerkte ich, dass sowohl ihre als auch meine Klassenkameraden uns erstaunt nachsahen. Im Lehrerzimmer bewegten sich die Vorhänge. Durch einen Spalt wurden wir heimlich beobachtet. Mir kam es so vor, als kreischten sogar die Lachmöwen, die ständig über den Wasserflächen am Rotterdamseweg segelten, lauter als sonst.
    Mit pochendem Herzen fuhr ich an Fredericas Seite. Der Novemberhimmel war trügerisch blau. Ich musste mich nicht umsehen, um zu wissen, dass Jouri – er musste in dieselbe Richtung – in angemessener Entfernung hinter uns herfuhr. Wir verließen den Rotterdamseweg, bogen auf den Schiedamsedijk ab und fuhren am Oranjepark vorbei, der in Vlaardingen schlicht »het Hof« genannt wird.
    In der Binnensingel lehnte ich mein Fahrrad an die Fassade einer Villa, in der Frederica, so hatte sie mir zu verstehen gegeben, wohnte. Kurz darauf betrat ich ein atemberaubendes Vestibül. Wir gingen weiter und gelangten in eine Wohnküche, wo mir von einem Dienstmädchen in einem schwarzen Kleid mit weißer Schürze gebratene Eier mit Speck, herrliches braunes Brot sowie Tomaten- und Gurkenscheiben serviert wurden.
    Nach dem Essen gingen wir wieder ins Vestibül. Frederica rief: »George!«
    Oben öffnete sich eine Tür. Ein schlaksiger, großer Bursche, viel älter als ich, erschien an der Balustrade. Er trug einen Anzug mit Weste und Krawatte.
    Er kam die Treppe hinunter, reichte mir die Hand und sagte: »Du möchtest also gern ein paar Sachen aus meiner Sammlung hören?«
    Ich nickte.
    Über die mit Teppich ausgelegten breiten Stufen schwebten wir nach oben. Er zeigte mir sein Zimmer. Als ich mich dort behutsam auf einem Stuhl niederließ, sagte er: »Neulich habe ich etwas gekauft, wovon ich total begeistert bin. Die Concerti grossi von Händel. Soll ich davon eines für dich auflegen? Das letzte? Das finde ich selbst nämlich am schönsten. Einverstanden?«
    Er wartete nicht auf meine Antwort. Wenn ich etwas mutiger gewesen wäre, hätte ich vielleicht gesagt: »Händel, dafür habe ich eigentlich nicht besonders viel übrig. Der klingt immer so gewollt fröhlich. Mir gefallen Beethoven und Bach besser.«
    Er legte eine Platte auf, ließ sich tief in einen Lehnstuhl fallen, schloss die Augen, faltete die Hände und senkte den Kopf.
    Da ich mich im Laufe der Zeit an heftiges Rauschen und eine schlechte Anlage gewöhnt hatte, waren die erstaunliche Klarheit der Aufnahme und der ebenso verblüffend schöne Klang seines hervorragenden Lautsprechers eine Riesenüberraschung für mich. So wie Händel dort klang, mit dem seltsamen, trügerischen hellblauen Novemberhimmel jenseits der Fensterscheibe, war mir, als sollte mir eingebläut werden, dass ich mich bisher in Bezug auf diesen Komponisten geirrt hatte. Als der schnelle erste Satz zu Ende war, schaute Fredericas Bruder mich strahlend an und sagte: »Herrlich, nicht?« Dann versank er wieder im Gebet.
    Plötzlich erklang aus dem schönen, schwarz lackierten Lautsprecher vollkommen unerwartet die Musik, mit der für mich alles angefangen hatte. Zunächst konnte ich es kaum glauben. Ich musste dem Drang widerstehen, zum Lautsprecher zu gehen und ihn zu betasten. Oh, da war es, und es wurde so unvorstellbar schön gespielt, es klang so rein, so ewig, so echt, ja, vor allem so unglaublich echt. Wieder wurden die Riesenschritte gemacht, und was für Schritte, sie berührten mich bis in die tiefsten Tiefen meiner Seele. Und dann wurde wiederholt, und danach folgten die ausgelassenen Hüpfer, die kleinen Nadelstiche, hoch und tief und überall. Händel, es war also von Händel, was Jouris Vater und ich all die Jahre so bewundert hatten. Nicht Bach, nicht Albinoni, nicht Telemann, sondern Händel, Georg Friedrich Händel, den ich nicht einmal bewunderte, jedenfalls sehr viel weniger bewunderte als Beethoven und Dvořák. Als der Satz verklungen war, wollte ich nur noch eines: aufstehen

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