Schneeflockenbaum (epub)
und losrennen, um Jouris Vater die große Neuigkeit zu überbringen: »Es ist Händel, Concerto grosso h-Moll Opus 6 Nummer 12.«
Natürlich blieb ich sitzen, bis das ganze Konzert zu Ende war. Dann sagte ich: »Ich muss jetzt gehen.«
»Schon? Willst du dir nicht noch etwas anhören?«
»Das würde ich gern, aber ich habe eine Menge Hausaufgaben auf, ich muss jetzt wirklich los.«
»Ich bring dich zur Tür. Kommst du nächste Woche wieder?«
»Gern.«
»Willst du dich noch von Frederica verabschieden?«
»Ja.«
Es zeigte sich jedoch, dass Frederica schon wieder weg war. »Zum Tennis«, sagte ihre Mutter.
»Wie schrecklich nachlässig behandelt Frederica bloß ihre Freunde«, sagte ihr Bruder. »Man merkt, dass sie ebenso leicht welche findet wie Spatzen Samen in Pferdeäpfeln.«
Ein paar Minuten später rannte ich keuchend in die Werkstatt der Solex-Servicestation. Jouris Vater schraubte an einer Cymota und sagte missbilligend: »Made in England! Tja, das lässt Schlimmes ahnen. Hört sich ja gut an, ohne Benzinpumpe und mit einem Vergaser ohne Schwimmer, aber mir ist eine Solex lieber.«
»Händel!«, rief ich atemlos, »es ist Händel, Concerto grosso , Opus 6 Nummer 12.«
»Was?«, fragte Jouris Vater erstaunt.
»Unser ›verdammt schönes Stück‹, es ist von Händel.«
»Das ist eine bedeutende Neuigkeit und eine wunderbare zudem. Denn ganz klar, so etwas Schönes, das kann nur von einem Deutschen sein.«
»Der den größten Teil seines Lebens in England verbracht hat.«
»Der Punkt geht an dich.«
In diesem Moment betrat Jouri die Werkstatt. Wütend sah er mich an. Er sagte spitz: »Dachte ich doch, dass ich deine Stimme höre. Komm sofort mit in mein Zimmer.«
Dort angekommen, fragte er mich ganz erzürnt: »Du willst doch nicht etwa sagen, dass du was mit Frederica Sprenger van Eijck hast?«
»Sie kam zu mir in die Bibliothek und erzählte, ihr Brüderchen ... ja, sie sagte tatsächlich ›Brüderchen‹, obwohl er viel älter ist als sie ... habe eine ganze Menge Platten, und er würde bestimmt die eine oder andere für mich auflegen, und da bin ich mit zu ihr nach Hause gefahren. Das ist alles.«
»Nimm dich in Acht, vergeude dich nicht an so eine Schlampe.«
»Glaubst du, sie ist eine Schlampe?«
»Sie hat den Chemielehrer ... der musste deswegen die Schule wechseln ... sie ist ...
»… keine Schlampe«, unterbrach ich ihn, »so etwas sagt man nicht von einem Realschulmädchen.«
»Sie hat jedenfalls im Oranjepark, und außerhalb davon sicher auch, schon ordentlich mit dem ganzen Schiedamer Gymnasiastenabschaum rumgemacht.«
»Gerüchte«, sagte ich, »nichts davon ist wahr.«
»Sie ist eine Schlange.«
»Vielleicht, allerdings eine schöne Schlange.«
»Du findest sie schön? Ist das dein Ernst? Ihr Haar ist blond gefärbt. Sie schminkt ihre Lippen schon ein wenig. Pfui, lass die Finger von ihr, geh nicht mehr mit zu ihr nach Hause, bitte. Versprichst du mir das?«
»Ich habe ihrem Bruder bereits versprochen, dass ich nächste Woche wieder vorbeikomme, um Platten anzuhören.«
»Zu ihrem Bruder, meinetwegen, wenn du nur um sie einen großen Bogen machst.«
»Wie streng du bist. Ich verstehe das nicht. Du hast mich noch nie vor einem Mädchen gewarnt, und jetzt auf einmal ...
»Sie ist eine Schlange, eine Schlampe, ein Luder, eine Petticoatmetze, eine Hu… Wirklich, ich will mit ihr nichts zu tun haben.«
»Du musst mit ihr auch nichts zu tun haben.«
»Wenn du mit ihr zu tun hast, habe ich ebenfalls mit ihr zu tun, und sei es auch nur, weil du mein bester Freund bist. Pass auf, sie verdreht dir den Kopf, und dann bin auch ich der Dumme, dann gehe auch ich vor die Hunde, bitte, halt dich fern von ihr. Du warst doch so hinter Hebe her ... fahr mit ihr nach Hause, sie ist doch auch bildhübsch, und sie findet, dass du ein netter Kerl bist.«
»Davon habe ich nie etwas bemerkt.«
»Aber ja doch, neulich erst habe ich mit Hebe über dich gesprochen, im Geheimen ist sie schon ein bisschen in dich verliebt, du musst dich nur ein wenig um sie kümmern ... ganz bestimmt ... mach dich an sie ran, wenn du unbedingt hinter einem Mädchen her sein musst, aber lass dieses Scheusal, dieses in der Wolle gefärbte, gewiefte Fischweib, diese Frederica Sprenger in Ruhe, meide sie, du kannst dir mit meinem Vater klassische Musik anhören, dafür brauchst du ihren Bruder nicht.«
»Er hat Platten, die dein Vater nicht hat. Und dieser Klang, der aus dem pechschwarzen
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